Das Handwerk hat ein Imageproblem. Junge Menschen für eine Ausbildung zu motivieren, gestaltet sich schwierig. Was ist zu tun? Der neue Campus Handwerk in Bielefeld setzt auf Attraktivität.
Sie sind groß, wuchtig und nicht zu übersehen: Die fünf Schaltschränke mit ihren blinkenden Displays und Schaltknöpfen nimmt man als erstes wahr, wenn man den riesigen Raum betritt. Sie sind das „Herz“ oder besser gesagt das „Gehirn“, dass alle technischen Prozesse im Gebäude steuert. Sie garantieren im Zusammenspiel mit dem Blockheizkraftwerk, den Wärmepumpen, der Kältemaschine und der Zufuhr von Fernwärme einen reibungslosen Betrieb der gesamten Immobilie, in der die Handwerkskammer OWL mit ihrem modernen Bildungszentrum vor vier Jahren eingezogen ist. Die hochmoderne begehbare Technikzentrale hat jedoch noch eine andere Aufgabe: Für Auszubildende und Meister aus den Bereichen der Gebäudetechnik ist dieser Ort eine Freude, ein Raum des praktischen Erlebens. Wo sonst lassen sich bei normalen Betrieb so viele Erkenntnisse und Abläufe real beobachten?
Der Campus Handwerk setzt einen starken Fokus auf die Praxis.
„Das Gebäude ist Lehr- und Lernort, es wird gezielt in den Unterricht eingebunden. Azubis lernen so, wie Gebäudetechnik funktioniert, sie bekommen jedoch auch ein Bewusstsein für den Verbrauch und für die Notwendigkeit, Energie einzusparen“, sagt Elektrotechniker-Meister Roland Willrich, und stellvertretender Abteilungsleiter Berufsbildungszentrum, nicht ohne Stolz.
Auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Meisterkursen und Fortbildungsveranstaltungen profitieren vom Lernort Campus Handwerk. Zwischen 400 und 500 junge Menschen, die eine Aus-, Fort- und Weiterbildung in einem Handwerksberuf absolvieren, kommen täglich hierher, sie nutzen die Möglichkeiten der überbetrieblichen Lehrlingsunterweisung und bekommen hier das Rüstzeug für die künftige Ausübung ihrer Tätigkeit.
„Während große Unternehmen ihre Auszubildenden in eigenen Lehrwerkstätten qualifizieren, stoßen kleine und mittlere Betriebe oftmals an ihre Grenzen. Sie sind nicht in der Lage, alle für einen Beruf notwendigen Inhalte der Ausbildungsordnung anzubieten, sondern können wegen hoher Spezialisierung nur einen Teil des Wissens in ihrem jeweiligen Schwerpunkt vermitteln. Die überbetriebliche Ausbildung trägt so dazu bei, dass sich alle Teilnehmer zum Abschluss der Lehrzeit auf dem gleichen Level befinden“, sagt Willrich. „Unsere Motivation ist es, alle Nachwuchskräfte bestmöglich auf ihre berufliche Zukunft in sich wandelnden Arbeitswelten vorzubereiten“, so der stellvertretende Leiter des Berufsbildungszentrums. Und das geschieht in angemessener Umgebung: 35 offen gestaltete Fach- und 15 Seminarräume stehen den Azubis zur Verfügung. Die Elektroniker lernen beispielsweise dreieinhalb Jahre und sind davon zehn Wochen im Campus Handwerk. Künftige Feinwerkmechaniker lernen zum Beispiel an CNC-Fräs- und Drehmaschinen und nutzen den angeschlossenen EDV-Raum, um hier am Computer Zeichnungen in 3D zu erstellen, die später per USB-Stick in die Maschine übertragen werden. „Demnächst werden die Daten direkt vom PC in die Maschine geleitet. Uns ist es wichtig, möglichst die modernste Technologie zu nutzen“, sagt Willrich.
Bei den Auszubildenden im Fachbereich Heizung, Sanitär, Klima werden ebenfalls Theorie und Praxis kombiniert, allen Azubis stehen Laptops zur Verfügung, sie können an den Anlagen verschiedener Hersteller Einstellungen vornehmen und unter Hinzuziehung von Youtube-Videos Informationen der Hersteller für ihr Projekt verarbeiten. Ein interaktives Whiteboard, festes Equipment in jedem Fachraum, ist nicht nur ein Medium für die Präsentation, es überträgt auch die Informationen direkt auf die Rechner der Lernenden.
Ausbildung hat sich verändert
„Trotz digitaler Medien wird selbstverständlich weiterhin geschraubt, müssen Rohre verlegt und geschweißt werden. Auf handwerkliche Fähigkeiten können wir nicht verzichten, die lassen sich nicht wegdigitalisieren“, so Willrich.
Dennoch setze auch das Handwerk verstärkt auf digitale Abläufe, da es immer mehr darauf ankomme, Prozesse zu verkürzen und zu beschleunigen. Beispiel Materialbeschaffung: Online-Bestellvorgänge sind hier mittlerweile an der Tagesordnung, weil diese nicht nur schneller, sondern auch transparenter erfolgen. „Dabei lernen die jungen Menschen auch ein Gefühl für die Kosten zu gewinnen. Heute wird in Prozessen gedacht, deshalb müssen die künftigen Berufseinsteiger in der Lage sein, diese genau zu organisieren. Das wird im Übrigen auch in der Gesellenprüfung abgefragt“, so Willrich, der besonders stolz auf die hier vorhandene Kompetenz im Bereich Intelligente Gebäudetechnologien ist. Sie gilt als Schnittstelle und umfasst gewerkeübergreifend die Bereiche Elektrotechnik, Sanitär-, Heizungs-, Klima- und Lüftungstechnik sowie Metallbau. „Das ist die Zukunft. Es kommt immer mehr darauf an, dass zum Beispiel Gebäudetechniker, Fenster- und Heizungsbauer sich zu Beginn eines Projektes verständigen, wo der genaue Bedarf liegt und welche Technik notwendig ist. Auf diese Weise entsteht ein sauberes intelligentes Gebäude“, betont der Elektrotechniker-Meister. Angesichts steigender Anforderungen an die Energieeffizienz von Gebäuden und gesetzlicher Bestimmungen würden Gebäudetechnik und -automation an Bedeutung gewinnen. Das bedeute jedoch auch veränderte Anforderungen an die Fachkräfte, von denen Kenntnisse verschiedenster Komponenten der technischen Gebäudeausrüstung erwartet würden.
Hier sind auch die Lehrenden selbst gefordert, mit neuestem Wissen ihren Unterricht zu gestalten. „Ohne regelmäßige Weiterbildung und Schulung geht es nicht. Für unsere 35 Ausbilder gibt es einen Schulungsplan, der eine gezielte Qualifizierung möglich macht. Selbstverständlich kann nicht jeder Lehrende das gesamte Wissen beherrschen. Hier geht es um Spezialisierung, während die „Brot-und-Butter-Kurse“ von allen angeboten werden“, sagt der Fachmann. Technisches Know-how ist bei Weitem nicht alles, was Ausbilder auszeichnet. Medienkompetenz und die Art der Wissensvermittlung sind längst genauso wichtig. „In Workshops lernen die Lehrenden zum Beispiel, wie sie prozess-orientiert unterrichten“, so Willrich. Zudem würden alle Ausbilder regelmäßig von einem Coach begleitet.
Campus Handwerk: Der Name ist zukunftsweisend und soll Modernität und Zukunft widerspiegeln.
Die Botschaft, die vom modernen Campus Handwerk ausgeht, ist eindeutig: Berufliche Ausbildung ist attraktiv, zukunftsorientiert und angesagt. Und das spiegelt auch die Architektur wider: Die Werkstätten der einzelnen Ausbildungsberufe präsentieren sich transparent. Von außen kann die Öffentlichkeit wie durch ein Schaufenster in die Räume blicken und sehen, wie Ausbildung heute funktioniert. Dennoch hat Ausbildung immer noch ein Imageproblem. Und da kann auch der moderne Campus, der richtig was hermacht, nicht grundlegend etwas ändern. Die meisten jungen Menschen wollen lieber Uni statt Lehre. Das zeigen die Zahlen: 60 Prozent aller Schulabgänger machen heute Abitur, nur 17 Prozent aller Abiturienten zeigen Interesse an einem Ausbildungsberuf. Zu Unrecht, wie viele Experten meinen. Die Vorzüge und Attraktivität der dualen Berufsausbildung müssten nur besser kommuniziert werden. „Mit dem Campus Handwerk haben wir die Attraktivität erhöht“, sagt Pressereferentin Ulrike Wittenbrink. Nicht nur die Werkstätten und Fachräume für Ausbildungsberufe seien an den Bedürfnissen modernen Lernens orientiert. Auch Ruhezonen und Lerninseln mit digitalen Anschlüssen, eine Mensa sowie ein Gästehaus mit 35 Zimmern seien geschaffen worden. Eine ganze Menge „Werbung“ für den Ausbildungsberuf. Ob das ausreicht, wird sich zeigen. Die Politik hat mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung bereits eine wichtige Plattform für die Aufwertung der dualen Berufsausbildung geschaffen. Wenn die Aktivitäten weiter ausgebaut und alle relevanten Akteure ins Boot geholt werden, kann es gelingen, der dualen Ausbildung zu einem Image zu verhelfen, das ihrer Attraktivität gerecht wird. Der Campus Handwerk hat zumindest schon einmal die richtigen Weichen gestellt.
Alle Fotos: Handwerkskammer OWL