Ein gelungenes Beispiel, wie Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam eine Problemlösung erfolgreich umsetzen, zeigt die Kooperation vom Getränkesofortlieferdienst flaschenpost und der Westfälischen Wilhelms Universität (WWU) Münster. Geschäftsführer Niklas Plath und Dr. Stephan Meisel vom Institut für Wirtschaftsinformatik an der WWU über die Herausforderung, eine individuelle Tourenplanungssoftware anwendungstauglich zu entwickeln und einzuführen.
Herr Plath, der Name flaschenpost ist deutschlandweit bekannt, beschreiben Sie kurz Ihr Geschäftsmodell.
Niklas Plath: Die Idee der Online-Bestellung und Lieferung von Getränken innerhalb von 120 Minuten, ohne Kistenschleppen oder lästige Pfandrückgabe wurde im Jahr 2016 am Heimatstandort Münster in die Tat umgesetzt. Das Konzept revolutionierte die Last-Mile-Logistik und wurde nicht nur innerhalb kürzester Zeit in ganz Deutschland ausgerollt, sondern auch hinsichtlich des Sortiments um Lebensmittel ergänzt. Heute, nur sechs Jahre später, ist die flaschenpost Deutschlands führender Getränke- und Lebensmittelsofortlieferdienst. Das Unternehmen ist in nahezu allen Metropolregionen Deutschlands vertreten. Mittlerweile sind wir mehr als 18.000 Mitarbeitende an mehr als 30 Lager- und drei Verwaltungsstandorten. Rund 190 Städte sind bereits Teil des landesweiten Liefergebietes. Seit 2020 ist die flaschenpost Teil der Oetker-Gruppe.
Ihr Lieferservice basiert auf einer Softwarelösung, die die Universität Münster entwickelt hat. Warum haben Sie sich für die Entwicklung an eine Hochschule gewandt?
Niklas Plath: Durch die rasante Entwicklung der flaschenpost hatten wir sehr komplexe Anforderungen an eine Planungssoftware, die die am Markt erhältlichen Lösungen nicht bedienen konnten. Unser Ziel war es von Anfang an, die IT an dem Prozess zu orientieren, der für uns aus Kunden- und Effizienzsicht am besten passt. Dabei wollten wir unsere Prozesse nicht um das herum bauen, was eine bestehende Software zulässt. Die Zusammenarbeit mit der WWU Münster war für uns die ideale Möglichkeit, alle Komponenten, die in unserer Tourenplanung zusammenlaufen, gleichermaßen berücksichtigen zu können. Angesichts der dynamischen Expansion des Unternehmens eine echte Herausforderung, die viel Flexibilität erforderte. Schon während der Konzeptionierungsphase mussten die Projektanforderungen mehrfach nachskaliert werden. Der ständige intensive Austausch mit dem Projektteam der WWU, spontane Abstimmungsmeetings und kurze, unkomplizierte Entscheidungswege waren für uns ein enormer Mehrwert. Andererseits war dieses Projekt auch für die Forschung sehr spannend. Eine so komplexe Planungssoftware ist auch in der Forschung State of the Art – das gab es in dieser Form bislang noch nicht.
... und wie ist der Kontakt zur Hochschule entstanden?
Niklas Plath: Als datengetriebenes Unternehmen sind wir im Jahr 2016 mit unserer eigenen Software gestartet, die für die damaligen Anforderungen völlig ausreichend war. Durch die schnelle Expansion des Unternehmens brauchten wir aber eine Lösung, die flexibel mit unserer Entwicklung Schritt halten und auf das bestehende System aufsetzen konnte. Durch enge Kontakte und die räumliche Nähe zur Universität war schnell klar, dass eine Zusammenarbeit für beide Seiten einen enormen Mehrwert bieten kann.
Seit wann ist diese Software im Einsatz, welche spezifischen Herausforderungen muss sie meistern und welche Vorteile sehen Sie für Ihre Einsatzzwecke?
Niklas Plath: Die Herausforderung war die Anbindung an die bestehende Software während des laufenden Betriebs. Unser oberstes Ziel ist die Einhaltung unseres Kundenversprechens – die Lieferung innerhalb von 120 Minuten ab Bestellung. Die Liefertouren aber gleichzeitig maximal effizient unter Einbeziehung des gesamten Kommissionier- und Beladeprozesses, der Personal- und Fahrzeugplanung inklusive individueller Standortgegebenheiten und Straßenverhältnisse im Voraus planen zu können, war der eigentliche Kern der Lösung, die seit 2019 im Einsatz ist.
Herr Dr. Meisel, Sie haben mit Ihrer Forschungsgruppe die Software für die schnelle Berechnung optimaler Liefertouren entwickelt. Wo lagen für Sie die besonderen Herausforderungen?
Dr. Stephan Meisel: Besondere Eigenschaft dieser Software ist es, möglichst schnell, innerhalb kürzester Zeit, und damit meine ich, in Sekunden bis in ganz wenigen Minuten optimale Touren für die Lieferfahrzeuge der flaschenpost zu berechnen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das eine riesige Herausforderung, weil es nicht einfach ist, hier gute oder optimale Lösungen zu finden. Dazu muss man wissen, dass sich Tourenplanungsprobleme mathematisch formulieren lassen. Sie gehören jedoch zu den am schwierigsten lösbaren Optimierungsaufgaben, die es überhaupt gibt.
Ihnen ist es jedoch gelungen, ein Lösungsverfahren zu finden. Das haben bisher weder wissenschaftliche noch unternehmerische Initiativen geschafft. Eine herausragende Leistung Ihrer Forschungsgruppe. Da können Sie mächtig stolz sein!
Dr. Stephan Meisel: Das sind wir auch. Und wir sind da sehr genau. Wir unterscheiden für ein Problem zwischen Lösungen, die umsetzbar sind, und Lösungen, die umsetzbar sowie zugleich qualitativ optimal sind. Eine einfache Herangehensweise wäre, dass jemand spontan entscheidet, welcher Kunde mit welchem Fahrzeug bedient wird. Das ist dann eine umsetzbare Lösung für das Tourenplanungsproblem.
Uns geht es jedoch darum, eine garantiert qualitativ hochwertige Lösung zu finden, und das ist eine, die die Kunden glücklich macht, und tatsächlich die Fahrtzeiten minimiert. In diesem Fall spricht man von einer optimalen oder nahezu optimalen Lösung. Über das dafür erforderliche Know-how verfügt meine Forschungsgruppe. Das ist in der Tat unser Alleinstellungsmerkmal. Deshalb haben wir es auch geschafft, unseren Ansatz in einer hochrangigen wissenschaftlichen amerikanischen Zeitschrift zu publizieren. Das ist ein echter Beweis für unseren Kompetenzvorsprung.
Eine Hochschule als Softwareentwickler und -anbieter ist eher ungewöhnlich. Wo sehen Sie Ihre Stärken als Hochschule im Vergleich zu einem Unternehmen?
Dr. Stephan Meisel: Was mich tatsächlich interessiert und warum ich das Projekt vorangetrieben habe, ist nicht der Wunsch, eine Software zu entwickeln oder zu programmieren. Der entscheidende Punkt ist, dass im Kern dieser Software ein Optimierungsverfahren steckt, mit dessen Hilfe sich das Tourenplanungsproblem mathematisch modellieren und algorithmisch lösen lässt. Wissenschaftlich zu überlegen, wie dieses Problem lösbar ist, das macht den Reiz dieser Arbeit aus und das ist eine originär wissenschaftliche Aufgabe. Diesen Algorithmus dann in eine Software zu gießen, ist aus unserer Perspektive eher ein Nebenprodukt. Die Software ist die Schnittstelle zur Praxis, die die Nutzung des Produkts sicherstellt. Angenommen, wir hätten den Algorithmus nur auf Papier notiert, dann hätte die flaschenpost die Schwierigkeit gehabt, diese Informationen zu programmieren. Deshalb gehört die Softwareentwicklung selbstverständlich dazu. Der Kern dieses Projektes ist jedoch ein mathematischer und um den geht es mir hauptsächlich. Und das ist der entscheidende Punkt, der unsere Arbeit im Vergleich mit Standardsoftwareentwicklern oder Softwareunternehmen unterscheidet.
Nicht unwichtig ist zudem, dass dank des Projektes Veröffentlichungen in internationalen Fachzeitschriften erfolgten. So wird die Thematik in die Forschungs-Community getragen und damit steigt das Interesse in der Wissenschaft an dieser Methodik.
Wie muss man sich die Zusammenarbeit mit Ihrer Forschungsgruppe vorstellen – wie zeitintensiv ist so ein Projekt?
Dr. Stephan Meisel: Unsere Kooperation lief über mehrere Jahre. Nach dem Start Ende 2017 haben wir eine Software entwickelt, in deren Kern ein Optimierungsalgorithmus steckt. Ein Projekt dieser Dimension verlangt eine intensive Auseinandersetzung, weil verschiedene Aspekte berücksichtigt werden müssen. Wie funktioniert das Verfahren mathematisch, wie geht man vor? Das braucht Zeit. Nach zwei Jahren sind wir erstmals live gegangen, anschließend haben wir die Software selbstverständlich noch weiterentwickelt. Mittlerweile ist der Prozess abgeschlossen, die Rechte an der Software sind an die flaschenpost übergegangen. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Thematik jedoch weiterhin für uns relevant, weil es uns interessiert, was sich noch verbessern und wie sich die Schnelligkeit noch erhöhen lässt. Übrigens beschäftigen wir uns in der Forschung schon sehr lange mit dieser Problematik.
Auch wenn wir das Projekt mit der flaschenpost zu einem vorläufigen Ende gebracht haben, bedeutet das nicht das Ende der Zusammenarbeit. Wir sind im Gespräch und haben vor, weitere Dinge anzugehen.
Ein Blick zurück: Wie hat die Zusammenarbeit funktioniert?
Dr. Stephan Meisel: Es war ein sehr regelmäßiger Austausch auf Augenhöhe. An den zeitweise wöchentlichen, und später zweiwöchentlichen Meetings nahm auch die Geschäftsleitung teil. Positiv ist aus meiner Sicht, dass das Engagement vonseiten der flaschenpost sehr groß und von lebhaften und spannenden Diskussionen geprägt war – nach meiner Vorstellung hätte es besser nicht sein können.
Für uns kann ich sagen, dass wir Wissenschaftler aus der Praxis gelernt und gesehen haben, worauf es ankommt und wo der Schuh drückt. Umgekehrt haben wir unser Know-how in das Projekt eingebracht. Auf dieser Basis ist das Produkt kontinuierlich weiterentwickelt worden.
Wie beurteilen Sie im Rückblick die gemeinsame Zusammenarbeit und Unterstützung, und aktuell z.B. bei der Beseitigung von Softwareproblemen?
Niklas Plath: Die Zusammenarbeit mit der WWU Münster war eine sehr inspirierende Aufgabe für beide Seiten. Die große Flexibilität des Projektteams und die intensive Zusammenarbeit während der Projektphase war für unsere Anforderungen entscheidend und konnte in mehreren Projektschritten am Ende zu einer innovativen, passgenauen und vor allem zukunftsfähigen Lösung führen.
Herr Plath, sehen Sie einen Mehrwert in einer interdisziplinären Zusammenarbeit?
Niklas Plath: Definitiv. Es ist für alle Beteiligten enorm wichtig, vorhandenes Wissen aus verschiedensten Disziplinen zusammenzuführen und in unsere Systeme einfließen zu lassen. Im Fall der flaschenpost ist die interdisziplinäre Arbeit mit der WWU Münster insofern besonders passend, als dass wir als ehemaliges Startup in allen Prozessen bis heute sehr agil sind. Im Kern sind wir ein Tech-Unternehmen, und alle Prozesse basieren auf eigenen IT-Lösungen. Die Mitarbeiter der WWU Münster brachten neue, frische Ansätze für unsere Tourenplanung mit sowie Methoden und die Software, um diese umzusetzen.
Was empfehlen Sie Unternehmern im Hinblick auf eine mögliche Kooperation mit einer Hochschule?
Niklas Plath: Das Potenzial, das bei gemeinsam realisierten Projekten von Praktikern und Wissenschaftlern entsteht, ist enorm. Wir können einen großen Mehrwert aus den entstehenden Synergien schöpfen. Die Zusammenarbeit mit engagierten Kooperationspartnern aus der Forschung verschafft uns hierbei einen Vorsprung am Markt, der letztlich unseren Kunden zugutekommt und unseren einzigartigen Service ausmacht. Jedes Unternehmen kann von der wissenschaftlichen Herangehensweise und agilen Arbeitsweise der Hochschule enorm profitieren. Seitens der Hochschule können frische Denkanstöße gegeben und Prozesse hinterfragt werden, die vielleicht schon seit langem unverändert sind, aber durchaus Optimierungspotenzial bergen. Auf Unternehmensseite muss natürlich die Bereitschaft da sein, Dinge neu zu denken und auch mal von traditionellen Wegen abzuweichen. Für die Hochschule ist der Praxisbezug unerlässlich für eine umfassende Ausbildung. Problemstellungen aus der Praxis sind sehr viel greifbarer und machen ganz einfach mehr Spaß, als ausschließlich theoretisch zu arbeiten. Zudem können gemeinsame Projekte auch Sprungbrett für die Karriere nach dem Studium sein. Im Fall unserer Zusammenarbeit mit der WWU freuen wir uns, dass wir einen Kollegen aus dem Projektteam nach Abschluss bei uns im flaschenpost-Team aufnehmen konnten.
Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft für Ihre Hochschule generell? Wo sehen Sie einen Mehrwert in einer interdisziplinären Kooperation?
Dr. Stephan Meisel: Ich persönlich betrachte eine Zusammenarbeit als sehr wertvoll und schätze die Chance, aus der Praxis neue Aspekte für meine Arbeit mitzunehmen, sie in meine Welt zu transportieren und so zu neuen Fragestellungen zu gelangen, die wissenschaftlich relevant sind. Mir geht es also nicht darum, der Wirtschaft, sprich der Softwareindustrie, Konkurrenz zu machen. Mich treibt die Motivation an, wissenschaftlich weiterzukommen, also Algorithmen im Kern weiterzuentwickeln und so neue Erkenntnisse zu erzielen. Generell habe ich für mich den Anspruch, dass die Themen, die ich wissenschaftlich bearbeite, am Ende auch eine Praxisrelevanz haben. Mir ist es wichtig, beide Welten zusammenzubringen. Das setzt allerdings Offenheit, einen engen Austausch und die Gegebenheit voraus, genügend Zeit zur Verfügung zu haben. Ist das gegeben, dann ist es eine Win-win-Situation für Hochschule und Wirtschaft.