Digital first – Innovationen im Zeitalter von Industrie 4.0

Prof. Dr. Markus G. Schwering, Fachhochschule Münster, Institut für Prozessmanagement und Digitale Transformation (IPD), über Innovationen an der Schwelle zu einem neuen Industriezeitalter.

Professor Dr. Markus G. Schwering: „Mit dem Mut zur Veränderung und dem Willen, die Dinge anzupacken, lassen sich die Herausforderungen der digitalen Transformation erfolgreich begegnen.“

Digitalisierung ist das Schlagwort dieses Jahrzehnts. Kaum ein Tag, an dem nicht die Errungenschaften einer zunehmend digitalisierten Welt entweder gepriesen oder verdammt werden – je nach Perspektive und Intention. Der Begriff „Industrie 4.0“ symbolisiert, dass wir an der Schwelle zu einem neuen Industriezeitalter stehen. Auch in einigen Wirtschaftsbereichen sind digitalisierte Prozesse inzwischen fest etabliert.

In weiten Teilen der Unternehmenslandschaft beschränkt sich die Digitalisierung allerdings noch darauf, analoge Daten in ein digitales Format zu übertragen. Künstliche Intelligenz, Sensorik und Robotik und die dadurch generierten Datenmengen sind dabei nur das technische Hintergrundrauschen. Doch im globalen Vergleich kann sich Deutschland weder als High-Tech-Standort noch als Vorreiter bei digitalen Geschäftsmodellen profilieren. Hierzulande gibt es keine digitalen Schwergewichte wie Apple, Google oder Facebook.

Disruption durch digitale Geschäftsmodelle

Digital aufgestellte Unternehmen sind in der Lage, plötzlich ganze Branchen umzukrempeln, ohne vorher auch nur mit einem Produkt darin vertreten zu sein:

  • Das iPhone ist erst zwölf Jahre alt und stammt von einem Anbieter, der weder in der Telekommunikation seine Wurzeln noch bis dato Mobiltelefone im Portfolio hatte. Trotzdem wurde in wenigen Jahren der lange unangefochtene Marktführer Nokia zu einem Nischenplayer degradiert. Dazu hat Apple eine digitale Produktpalette (AppStore, AppleMusic etc.) geschaffen, die skalierbar ist, Systembindungseffekte erzeugt, individualisierbare Konfigurationen ermöglicht und auf diese Weise viel Umsatz generiert.

  • Tesla, der amerikanische Hersteller von Premium-Elektrolimousinen, ist kein Ableger eines etablierten Autokonzerns, sondern wurde von Leuten gegründet, die schon früh eine Ahnung von der digitalen Transformation im Bereich der Mobilität hatten. Ein Blick auf die Verkaufszahlen von Autos im Premiumsegment in den USA spricht für sich: Im ersten Halbjahr 2017 wurden so viele Tesla Model S zugelassen wie BMW 7er und Mercedes S-Klasse zusammen.

  • Die weltweit größten und wertvollsten Kaufhäuser Amazon und Alibaba haben selbst kein Inventar, das größte Taxiunternehmen der Welt besitzt keine eigenen Taxis (Uber) und der größte Unterkunftsanbieter der Welt Airbnb nennt praktisch keine Immobilie sein eigen.

Die Umrisse der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts lassen sich in den Datenbanken von Unternehmen wie Google, Apple und Amazon erkennen. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter vollziehen sich viele kleinteilige Entwicklungen, die auf die Geschäftsmodelle der hiesigen, industriell geprägten Unternehmen großen Einfluss haben werden. Produktlebens- und damit die Innovationszyklen werden immer kürzer; die Zeiträume, in denen Investitionen in Neuerungen wieder eingespielt werden können, umfassen gerade mal ein paar Jahre. Ganze Produktgattungen verschwinden vom Markt, Geschäftsmodelle erodieren, weil Start-ups mit cleveren Ideen plötzlich auf der Bildfläche erscheinen.

Digitalisierung als Chance

Innovationen sind als einmalige, auf jeden Fall erstmalige Ereignisse in einer prozessoptimierten Organisation schwierig zu bewältigen. Wer die Spielregeln in einer Branche neu definieren will, muss immer wieder querdenken, neue Wege einschlagen, experimentieren, Versuch und Irrtum zulassen. Einfallsreichtum lebt von Freiraum, Diversität und kreativem Chaos und eben nicht von Ordnung, eingeschliffenen Standardabläufen und Null-Fehler-Ansätzen. Also besser: Routineprozesse verschlanken und den Innovationsbereich nicht verhungern lassen.

Die Herausforderung für Unternehmen besteht darin, ständig an der Optimierung der Prozesse zu arbeiten und gleichzeitig die Wachsamkeit, Offenheit und Neugierde für Neues zu bewahren. Unternehmen, die in Zeiten der digitalen Transformation erfolgreich agieren, verbinden Routine und Innovation. Sie verfügen über reibungslos funktionierende Abläufe und eine Digital-first-Haltung. Von Apple, Google, Microsoft und Amazon heißt es schon seit Jahren, dass sie operativ exzellent aufgestellt sind, aber auch ein erstklassiges Innovationsmanagement betreiben und eine einzigartige Innovationskultur konservieren. Die Pioniere des Digitalzeitalters reservieren für ihre Mitarbeiter Zeit und freie Kapazitäten. Die kreativen Köpfe werden nicht vollständig im Tagesgeschäft aufgezehrt, sondern haben bei der Arbeit Freiräume, um Trends wahrzunehmen oder bestehende Lösung zu hinterfragen.

Wer digitale Innovationen fördern will, muss dafür also spezifische organisatorische Voraussetzungen schaffen. Die für die Unternehmensentwicklung entscheidende Balance von Innovation und Routine erfordert eine Art Parallelorganisation, die beide Kernaktivitäten gezielt unterstützt. Mit dem Mut zur Veränderung und dem Willen, die Dinge anzupacken, lassen sich die Herausforderungen der digitalen Transformation erfolgreich begegnen.

 

Kontext

Professor Dr. Markus G. Schwering ist Dekan des Münster Centrum für Interdisziplinarität (MCI) an der Fachhochschule Münster und Mitglied im Institut für Prozessmanagement und Digitale Transformation. In Forschung und Lehre vertritt er vor allem die Themen Technologie- und Innovationsmanagement sowie Marktforschung. Seit seinem Studium, das er an den Universitäten Münster und UC Los Angeles absolviert hat, treibt ihn die Frage um, wie das Neue in die Welt kommt.

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