Viele Unternehmen klagen über fehlende Fachkräfte. Meist unter dem Radar laufen die gut qualifizierten, aber aktuell nicht erwerbstätigen Menschen. Das muss sich ändern.
Rainer Radler macht sich Sorgen. Die Schwierigkeiten vieler Unternehmen, ihren Bedarf an Fachkräften zu sichern, sind groß. „Hier in Lippe haben wir viele kleine und mittelständische Betriebe, die wichtig für den Standort sind und die nach Personal suchen“, sagt der Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Detmold. Das Thema Fachkräftesicherung ist ihm eine Herzensangelegenheit.
„Fachkräfte sind für unsere Region ein entscheidendes Merkmal für den Wohlstand. Wir müssen alles daransetzen, dass dieser erhalten bleibt“.
Radler hat jedoch die Hoffnung, dass da noch etwas geht. Mut machen ihm die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts, das auf Basis des Mikrozensus und der Arbeitskräfteerhebung festgestellt hat, dass bundesweit drei Millionen Menschen im Alter zwischen 15 und 75 Jahren nicht erwerbstätig sind, jedoch nach Arbeit suchen. Obwohl es keine regionalen Zahlen gibt, ist davon auszugehen, dass auch in Lippe ein Potenzial von Arbeitswilligen schlummert. Und deshalb gilt es, diese sogenannte „Stille Reserve“ zu heben. Hinter diesem Begriff verbergen sich Personen ohne Arbeit, die zwar kurzfristig nicht für den Arbeitsmarkt verfügbar sind oder momentan nicht aktiv nach Arbeit suchen, sich aber trotzdem Arbeit wünschen. Sie gelten deshalb nicht als erwerbslos.
Frauen stellten im vergangenen Jahr knapp 57 Prozent der Stillen Reserve. Ein Großteil derjenigen, der am Arbeitsmarkt inaktiv ist, verfügt laut Berechnungen des Statistischen Bundesamts über ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau und damit über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder die Hoch- und Fachhochschulreife. Der Anteil der Frauen liegt hier bei über 60 Prozent.
Die Gründe für diese Inaktivität am Arbeitsmarkt sind vielfältig.
Da gibt es beispielsweise Menschen, deren Familieneinkommen auskömmlich ist. Der Partner oder die Partnerin verdient genug. Bei manchen mag die Zurückhaltung, beruflich aktiv zu werden, auch einer Tradition geschuldet sein. Als die Kinder noch klein waren, hat einer der Ehepartner den Nachwuchs betreut, der andere Partner gearbeitet und den Lebensunterhalt gesichert. Die Notwendigkeit, sich wieder am Arbeitsmarkt zu betätigen, als die Kinder aus dem Haus waren, war oftmals nicht gegeben.
Tatsache ist aber auch, dass nicht alle Arbeitswilligen kurzfristig zur Verfügung stehen, weil sie beispielsweise durch andere Verpflichtungen wie die Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen gebunden sind. Und dann gebe es da noch diejenigen, die frustriert seien vom Arbeitsmarkt, die sich mehrfach beworben, aber keine Chance bekommen und irgendwann aufgegeben hätten. Das sei jedoch kein Grund, jetzt nicht doch noch einmal die Initiative zu ergreifen, so Rainer Radler: „Der Arbeitsmarkt hat sich verändert. Es gibt weiterhin gute Beschäftigungschancen, auch wenn sich die Konjunktur ein wenig eintrübt. In Lippe sind aktuell mehr als 2700 offene Stellen unbesetzt. Es geht also noch etwas.“
Diese ungenutzten Fähigkeiten wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, ist die Herausforderung, die viele Experten umtreibt. Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn diese potenziellen Arbeitskräfte sind weder bei der Agentur für Arbeit noch beim Jobcenter gemeldet.
„Diese Menschen müssen wir aus ihren Wohnzimmern locken, sie motivieren, mit uns in Kontakt zu treten, um ihnen Jobmöglichkeiten aufzuzeigen“, sagt Radler.
Auf die verschiedenen staatlichen Maßnahmen, die über die Zuwanderung, die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Qualifizierungsmaßnahmen erfolgen, will er sich nicht allein verlassen. Deshalb hält er weitere Schritte für notwendig, um den Unternehmen die dringend benötigten Fachkräfte zu sichern.
Sein Team hat in den letzten Monaten einige Aktivitäten unternommen, um diesen Schatz für den Arbeitsmarkt zu heben. Im Rahmen von Berufsberatungen für junge Menschen, bei denen auch Eltern präsent sind, wird es nicht müde, um über den Wiedereinstieg in den Job, über Qualifizierungen vor und während der Beschäftigung, Beratungs- und Fördermöglichkeiten zu informieren.
„Die Hilfe findet völlig ohne Druck statt. Mit unseren Angeboten wollen wir Mut machen, sich wieder am Arbeitsmarkt zu betätigen und damit am Leben teilzunehmen.“
Auch das Jobcenter hat Möglichkeiten, die längere Abstinenz vom Arbeitsmarkt durch gezielte Förderung zu beenden. „Um diese Menschen wieder in Arbeit zu bringen, braucht es etwas mehr Zeit. Mehr Vorbereitung, Coaching, Qualifizierungsmaßnahmen und Bewerbungstrainings sind hier notwendig. Zudem ist die Arbeitsverdichtung in den letzten Jahren größer geworden. Das belastet viele Arbeitnehmer, nicht nur die, die lange Zeit inaktiv waren“, so Radler, der überzeugt ist, dass auch dieses Potenzial genutzt werden muss.
„Die Reaktionen sind teilweise interessiert, aber doch sehr verhalten“, zieht Radler ein eher ernüchterndes Fazit der bisherigen Bemühungen. Deshalb bedürfe es einer größeren Initiative, die das Bewusstsein in der Gesellschaft ändere. Es müsse ein Umdenken stattfinden und deutlich werden, dass Arbeit wertvoll und sinnstiftend ist.
„Einer Beschäftigung nachzugehen, ist Teil des sozialen Lebens und Teil unseres Wohlstands“, so Rainer Radler.
Der Agenturchef appelliert auch an die Betriebe in der Region und ermuntert sie, bei der Rekrutierung künftiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch denen eine Chance zu geben, die länger aus dem Job sind und nicht hundertprozentig zum Anforderungsprofil passen. Fehlende Qualifikationen könnten mit Unterstützung der Arbeitsagentur oder des Jobcenters beseitigt werden. Potenzial sieht Radler auch bei den Älteren, die viel Erfahrung mit an den Arbeitsplatz bringen. Die Denke, nur junge Menschen einzustellen und Frauen und Männer über 40 aus dem Blickfeld zu nehmen, sei nicht zeitgemäß und angesichts der aktuellen Situation völlig fehl am Platz.
„Unternehmen wollen die Bestqualifizierten und die, die am schnellsten laufen können. Diese Menschen wird es künftig in dem erforderlichen Umfang nicht geben. Mit dieser Haltung kommen wir nicht weiter. Kompromisse sind auf beiden Seiten notwendig“, betont Radler.
Gleiches gelte auch für die Arbeitnehmer, die nicht zwangsläufig in ihrem erlernten Beruf tätig werden müssten. Gerade in Branchen mit hohem Personalbedarf wie in der Gastronomie oder Pflege gebe es gute Einstiegsmöglichkeiten. In Teilzeit zu arbeiten oder eine Helfertätigkeit anzunehmen, sei genauso wertvoll wie in einer Tätigkeit mit höherer Qualifikation einzusteigen. Ebenso müsse die Bereitschaft vorhanden sein, auch eine Tätigkeit mit einem niedrigeren Entgelt als früher anzunehmen.
Nicht zu unterschätzen seien auch ältere Menschen, die bereits im Ruhestand sind und nach einigen Jahren wieder den Wunsch nach einer Beschäftigung verspüren. „Diese Gruppe dürfen wir nicht außer Acht lassen. Ich bin überzeugt, dass der Arbeitsmarkt hier noch etwas hergibt.“
An Ideen mangelt es den Arbeitsmarktexperten in Lippe nicht: So soll künftig ein Projekt auf den Weg gebracht werden, um mehr Frauen für MINT-Berufe (Medizin, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zu begeistern. Gerade hier ist der Bedarf an Fachkräften riesengroß.
Gleichzeitig werden sie nicht müde, jedem Menschen, der nach längerer Pause sich für die Aufnahme einer Beschäftigung entscheidet, mit offenen Armen gegenüberzutreten. „Uns interessiert nicht, warum jemand arbeitslos ist. Wir müssen uns behutsam und vertrauensvoll dem einzelnen Menschen widmen und schauen, wie wir ihn unterstützen können, wieder am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Denn letztendlich geht es darum, Menschen in Arbeit zu bringen, ihnen eine sinnstiftende Tätigkeit anzubieten und damit auch einen Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten. Nur so schaffen wir es, unseren gewohnten Wohlstand zu erhalten“, sagt Rainer Radler, und appelliert an alle, die eine Erwerbstätigkeit anstreben: „Melden Sie sich…“.