„Disruptives Denken ist immer noch sehr unpopulär“

Die Digitalisierung führt immer mehr dazu, dass sich auf vielen Märkten digitale Plattformen etablieren – doch die meisten deutschen Unternehmer wissen mit dieser Technologie immer noch wenig anzufangen. (Foto: rawpixel 123rf.com)

Das Wachstum der Plattform-Ökonomie geht ungebremst weiter. Auf der Gewinnerseite stehen Amerika und Asien, während Europa weit hinter den Konkurrenten liegt. Mark Leewe, Geschäftsführer der Bielefelder Agentur tricks GmbH, über die Gründe für die Abgeschlagenheit Deutschlands


m&w: Herr Leewe, gibt es für Unternehmen mit linearen Geschäftsmodellen überhaupt noch Alternativen, um im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung zu überleben?

Mark Leewe ist Geschäftsführer der Bielefelder Agentur tricks GmbH und unterstützt Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle.

Mark Leewe: Bei deutschen Unternehmen sehe ich derzeit insbesondere das Problem, dass Trends viel zu spät erkannt werden. Spreche ich meine Kunden darauf an, dann wird häufig beteuert, dass die Geschäfte doch gerade prächtig laufen und dass man keinen Grund sehe, etwas zu ändern. Doch während im Silicon Valley gerade die neue Welt erfunden wird, feiern sich deutsche Unternehmen schon dafür, dass Sie Rechnungen nun auch als PDF akzeptieren und nennen dies Industrie 4.0.
Machine learning und KI sind die großen Themen dieses Jahrhunderts. Hier spielen wir jedoch im internationalen Vergleich kaum eine Rolle: Während wir uns noch darüber streiten, wie der Breitbandausbau finanziert werden soll, verkündet Demis Hassabis auf Twitter, dass seine Google-Tochter Deepmind den CASP13-Wettbewerb gewonnen hat. Hierbei geht es darum, die physische Form der Grundbausteine des Lebens auf Basis ihrer DNA vorherzusagen, mit selbstlernenden Maschinen. Ein anderes Problem ist, dass Startups, die sich in Deutschland mit zukunftsweisenden Technologien beschäftigen, zu wenig Wagniskapital erhalten und deshalb mit ihren guten Ideen ins Silicon Valley oder nach Tel Aviv abwandern. Da kann ich sogar ein Beispiel aus meinem eigenen Freundeskreis nennen: Bastian Lehmann, ein quirliger Querdenker aus Wiedenbrück, sah in Deutschland keine Chance, seine Ideen umzusetzen und ging so nach San Francisco, um dort Postmates zu gründen. Sieben Jahre nach dem Launch erreichte sein Liefer-Startup 2018 den Unicorn-Status. Das bedeutet, dass sein Unternehmen mit über einer Milliarde Dollar bewertet wurde. In der jüngsten Finanzierungsrunde Ende 2018 wurden über 300 Millionen Dollar eingesammelt.

m&w: Die Digitalisierung führt immer mehr dazu, dass sich auf vielen Märkten digitale Plattformen etablieren – doch die meisten deutschen Unternehmer wissen mit dieser Technologie immer noch wenig anzufangen. Was muss man sich unter digitalen Plattformen vorstellen?

Mark Leewe: Plattformen nutzen das Potential des Netzwerk-Effektes, dieser besagt, dass der Nutzen exponentiell mit der Anzahl der Benutzer steigt. Einfachstes Beispiel ist Facebook: Je mehr User registriert sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass meine Freunde auch dort sind, desto höher ist der Nutzen für alle. Da Zentralisierung den Netzwerk-Effekt begünstigt, setzt sich in der Regel immer nur eine Plattform zu einem Modell durch. Leider haben wir dies zu spät erkannt und verbuchen in Europa gerade mal 1% der weltweit 60 wertvollsten Plattformen. Im Internationalen Vergleich sind wir damit das Schlusslicht. Afrika beheimatet 2%, den Rest teilen sich Asien und die USA.
Da Plattformen Prozesse standardisieren und somit vereinfachen, sind sie enorm effizient. So entscheiden sich unsere Kunden beispielsweise immer seltener für die Programmierung eines individuellen Online-Shops. Denn der Verkauf über etablierte Plattformen hat den Vorteil, dass man direkt von einer starken Infrastruktur profitiert. Zudem stellt man den Käufer vor geringere Hürden beim Kauf, etwa der erneuten Registrierung. Der Nachteil ist allerdings, dass es auf Plattformen nicht möglich ist, seine Marke zu kommunizieren und ein individuelles Benutzererlebnis zu schaffen. Dies kann man aber mit anderen Maßnahmen gut ausgleichen.

m&w: Können Sie Beispiele für erfolgreiche digitale Plattformen nennen?

Mark Leewe: Bei einem Innovations-Meeting, zu dem ich kürzlich geladen war, sollten alle Teilnehmer Unternehmen nennen, die sie für besonders digital hielten und warum. Interessanterweise waren die so zusammengetragenen Unternehmen alle Plattformen, die in der jüngsten Vergangenheit enormes Wachstum verzeichnet hatten: Alibaba, Google, Netflix, usw. Das interessante an Plattformen ist, dass deren Geschäftsmodell rein digital sein kann, also also ohne jegliche Produkte oder Dienstleistungen. Beispiel: Wenn man so möchte, ist Airbnb der größte Wohnraumanbieter der Welt, besitzt jedoch keinen eigenen Wohnraum. Das Wachstumspotential von Plattformen ist also nicht an traditionelle Parameter gebunden, was zu den bekannten Erfolgsgeschichten der letzten Jahre geführt hat.

m&w: Wo liegen die Vorteile dieses zentralen Geschäftsmodells der Plattform-Ökonomie?

Mark Leewe: Jack Ma, Gründer und Executive Chairman der Alibaba Group, erklärte das schnelle Wachstum seiner Plattform in einem Interview mal so (sinngemäß): „If Walmart wants 10.000 new customers, they have to build a new warehouse, hire people and this and that. For me: 2 servers!“. Ich finde das erklärt exakt, welches Potential im Plattform-Geschäftsmodell steckt und wie dieses rasante Wachstum überhaupt möglich ist.

m&w: Woran liegt es, dass wir in Deutschland dieser Technologie hinterher hinken?

Mark Leewe: Bei der Etablierung von Plattformen zeigten wir in der Vergangenheit häufig nicht das nötige Durchhaltevermögen, um das Tal des „Hockeystick“ zu durchwandern. Kapital in der Gründungsphase gibt es mittlerweile genug, aber in der Wachstumsphase geht den Investoren häufig das Geld oder vielmehr die Geduld aus. Bis der Netzwerk-Effekt einsetzt, wird viel Kapital benötigt, es dauert in der Regel einige Jahre, bis eine Plattform schwarze Zahlen schreibt. Lineare Geschäftsmodelle hingegen können von der ersten Stunde an Profit abwerfen. Diese Geschäftspraxis gewöhnt, staunen wir nur über Investitionen, wie sie z.B. in Kalifornien oder Israel getätigt werden. Man erinnere sich z.B. an die Übernahme von Youtube durch Google für 1,65 Milliarden Dollar. Aus heutiger Sicht war das ein Schnäppchen: Allein im Jahr 2015 machte YouTube etwa sechs Milliarden USD Umsatz, Tendenz steigend.

m&w: Was muss sich ändern, damit wir diesen Rückstand möglichst schnell aufholen, und welche negativen Auswirkungen sind zu befürchten, wenn uns das nicht gelingt?

Mark Leewe: Unser industrieller Erfolg hat uns gelähmt und zur Innovationswüste gemacht. Deshalb müssen wir jetzt Startups mit international vergleichbaren Investitionen fördern. Zudem sollten Unternehmen ihre erfolgreichsten Geschäftsmodelle in Frage stellen und selbst torpedieren: Welche Technologien werden früher oder später dafür sorgen, dass unser Erfolgsmodell von Heute zum Auslaufmodell wird? Und können wir dem zuvorkommen, indem wir diese Technologie selbst entwickeln? Disruptives Denken ist in Deutschland immer noch sehr unpopulär, denn man befürchtet, seine eigene Cash Cow zur Schlachtbank zu führen. Jedoch geschieht dies sowieso, die Frage ist, ob man zum Festmahl nur die Kuh liefert, oder ob man selbst auch mit an der Tafel sitzt.
Des Weiteren muss die Politik reagieren und die Gesetzgebung lockern. Z.B. benötigen wir weniger Regularien für autonom fahrende Autos auf deutschen Straßen. Unsere bisherigen Erfolge in der Automobilindustrie sind nicht zuletzt darin begründet, dass Deutschland aufgrund seines Straßennetzes die ideale Infrastruktur bot, um Autos zu entwickeln und zu testen. Wenn wir uns diesen Wettbewerbsvorteil verspielen, sehe ich die USA und China an uns vorbeiziehen: Rund um das Silicon Valley haben 2018 mehr als 40 Unternehmen Lizenzen für den Betrieb von autonom fahrenden Autos erhalten.
Auch sollten Unternehmen mit vertikalen Geschäftsmodellen umdenken und diese modularisieren und horizontal neu ausrichten. Alle Bausteine eines vertikal ausgerichteten Unternehmens sind aufeinander basierend wie ein Turm, was die Gesamtstruktur sehr unflexibel und anfällig für disruptive Angriffe macht. Horizontale Geschäftsmodelle hingegen können Teilgeschäfte austauschen, verwerfen oder unabhängig weiterentwickeln, ja sogar separat monetisieren oder gar zu Plattformen machen!

Für letzteres bietet Amazon ein gutes Beispiel: Um eine E-Commerce-Plattform dieser Dimension überhaupt betreiben zu können, bedurfte es einer soliden und flexiblen Serverarchitektur. Da zu dem Zeitpunkt niemand in der Lage war, entsprechende Anforderungen zu erfüllen, wurde kurzerhand ein eigenes System entwickelt. Dies entpuppte sich als so revolutionär, dass man schnell erkannte, dass auch andere Unternehmen davon profitieren könnten: Die Amazon Web Services (AWS) waren geboren! Amazon setzt seither mit seinem Sammelsurium aus Cloud- und Web-Services den Branchenmaßstab. Für deutsche Unternehmer häufig noch unvorstellbar: Amazon liefert durch diese horizontale Ausrichtung nicht nur sich, sondern auch direkten Mitbewerbern die optimale Infrastruktur. Doch genau diese Denkweise ist einer der wichtigsten Säulen des Erfolges der neuen Tech-Companies. Das belegen auch die Zahlen: AWS ist zwar nur für gut zehn Prozent des gesamten Umsatzes von Amazon verantwortlich, jedoch steht dieser für mehr als 70 Prozent des Gewinns. Der Grund: Die Kosten für den Betrieb von AWS sind viel geringer als die beim Verkauf von Waren.

Weitere Informationen: www.tricks.de

  • instagram
  • linkedin
  • facebook
-Anzeige-