Warum (nicht) Bielefeld?
Bielefeld ist prädestiniert dafür, Innovationen voranzubringen, findet Marie-Andrée Barthélemy, Autorin dieser Kolumne.
Ich bin aus New York. Nach langen Jahren bei einem börsenorientierten Softwarekonzern in Berlin bin ich 2018 mit meiner Familie nach Singapur gezogen. Der kleine Stadtstaat am südlichen Zipfel Malaysias ist ein sorgloser Ort. Wir genossen die Sonne, die Sicherheit, die hohe Lebensqualität und Service-Orientierung. Bis auf die Sonne gehen all diese Annehmlichkeiten Singapurs auf eine stetige Innovation des öffentlichen Raums zurück. Im August vergangenen Jahres bin ich von Singapur nach Bielefeld umgezogen, zunächst ohne meine Familie, um eine Stelle bei der Open Innovation City Bielefeld (OIC) anzunehmen. Ein Umzug aus dem Paradies nach Bielefeld, werden Sie sich fragen. Ist die verrückt?
OIC ist eine neuartige Initiative, deren Ansatz mich fasziniert: Alle Bereiche einer Stadt gestalten gemeinsam ihre Zukunft: Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Startups, Bildung und Forschung, Kunst und Kultur und Zivilgesellschaft – offen und transparent. Nicht allein die Wirtschaft soll Innovation vorantreiben. Die Bevölkerung soll beteiligt, mitgenommen, ja begeistert werden. Nach sechs Monaten in Bielefeld sehe ich hier enormes Potential.
Bielefeld ist prädestiniert für die Ziele der OIC: Es hat eine Kaufmannstradition, die bis zur Leinenweberei des 9. Jahrhunderts zurückreicht. Die Wirtschaft ist traditionell eng verwoben mit der Zivilgesellschaft, dem Städtebau und der Kultur. Es gibt die Seidensticker Halle als zentralen Veranstaltungsort. Ohne August Oetker gäbe es die von Stararchitekt Philip Johnson entworfene Kunsthalle nicht.
Um Weihnachten und Neujahr durfte ich noch einmal nach Singapur reisen, um meiner Familie beim Umzug nach Deutschland zu helfen. Meine Gedanken bei dieser Reise kreisten darum, dass das „alte Europa” sich zunehmend von Asien abgehängt fühlt. Neben anderen Faktoren hat dies auch mit einem anderen Mindset in Bezug auf Innovation zu tun: Was die vorbehaltslose Nutzung von Tracing Apps bei der Pandemiebekämpfung ist, findet seine Entsprechung bei autonomem Fahren, 5G fähigen Navis, vollautomatisierten Supermärkten und anderen Bereichen.
Bedeutet das, Europa diskutiert und handelt zögerlich, während Asien einfach macht?
Ich glaube, dass dies zu kurz gegriffen ist. Man kann das eine mit dem anderen nur bedingt vergleichen. In Singapur habe ich mit Aurel von Richthofen von SEC, das Forschungszentrum von ETH Zürich in Südostasien, gesprochen. Er vertritt den Standpunkt, dass Singapur technologisch so gut aufgestellt ist, weil es eine offene Membran für Innovation aus der ganzen Welt hat – und die besten Lösungen vor Ort implementiert. Genau diesen Aspekt der internationalen Vernetzung und der Förderung von Zuzug von Talenten und innovativen Ideen fokussieren wir in Bielefeld mit unserem Projekt ebenfalls.
Bielefeld wird niemals Singapur sein. Soll es auch nicht. Wir dürfen sehr wohl auch auf Errungenschaften stolz sein, die die Digitalisierung zunächst bremsen können, wie der Datenschutz. Sie sollten uns nicht davon abhalten, nach smarten Lösungen zu suchen, die das Neue mit dem Alten vereinen.
Ein wenig, wie der totschicke Kubus der Founders Foundation, wo ich mein Bewerbungsgespräch hatte, Mitte März 2020. Das Gebäude schmiegt sich an die denkmalgeschützte alte Handwerkskammer. Das Alte und das Neue erschaffen ein neues Ganzes. Das ist in Singapur eben nicht so.
Bielefeld und die Region haben auf der einen Seite genug Wirtschaftskraft, genug Kapital und genug Forschungsaktivitäten, um innovativ sein zu können. Auf der anderen Seite ist es mit rund 330.000 Einwohnern überschaubar genug, um Innovation gezielt steuern zu können. Und dass manche sogar der Auffassung sind, dass es Bielefeld gar nicht gibt, sollte ein Ansporn sein. Große Ideen werden oft im Kleinen geboren und können überall und bei jedem von uns entstehen: Der Geburtsort des Silicon Valley ist eine unscheinbare Garage aus Holz mit grünen Flügeltüren, 367 Addison Avenue, Palo Alto.