In der Logistikbranche gewinnen digitale Technologien mehr an Bedeutung. Wo liegen noch ungenutzte Potenziale? Welche Rolle spielt die künstliche Intelligenz und welche Bedeutung hat die Plattformökonomie? Tim Schneider, Leiter Prozesse und Standards | Digitalisierung im Bundesverband Spedition und Logistik, über die Herausforderungen und Möglichkeiten.
m&w: Künstliche Intelligenz – Logistik wird smarter und autonomer: Was sind die Voraussetzungen für den Einsatz von KI im Unternehmen?
Tim Schneider: Um das Potenzial künstlicher Intelligenz im Unternehmen zu heben, bedarf es zunächst eines großen, strukturierten Bestands an Daten. Die Daten können aus den operativen Geschäftsprozessen kommen und mit externen Datenquellen kombiniert werden – in jedem Fall muss ein Überblick über die existierenden Datensätze bestehen und klare Regeln für deren Auswertung definiert sein. Viele Unternehmen scheitern aktuell noch daran, dass Daten zwar aggregiert, aber nicht für die weitere Auswertung genutzt werden. Man sollte also zunächst anfangen zu überlegen, an welchen Stellen bereits Einblicke in die Prozesse bestehen, wo also Daten generiert werden. Danach kann entschieden werden, ob diese Daten bereits kombiniert werden könnten, um detaillierte Rückblicke und erste Prognosen über die Geschäftsprozesse zuzulassen. Die Anwendung von KI entstammt also einem iterativen Prozess, der am Anfang auf einer einfachen Betrachtung der eigenen Daten basiert – erst später kann von Machine Learning und Predictive Analytics gesprochen werden – für viele Unternehmen sind aber besonders die kleinen Schritte am Anfang von höchster Bedeutung.
m&w: Welche zusätzlichen Netzwerkeffekte können den wirtschaftlichen Nutzen digitaler Technologien multiplizieren?
Tim Schneider: Der Mehrwert, der dem Nutzer durch digitale Technologien geboten wird, entspringt häufig aus den Netzwerkeffekten, die durch sie erst ermöglicht werden. Ein einfaches Beispiel sind die Plattformen, die im Endverbraucherbereich riesige Kundenmassen aggregieren konnten: Amazon, Google und Co. sind auf Grund ihrer hohen Anzahl an Kunden in der Lage, einen wertvollen Service anzubieten – gleichzeitig ist diese hochgradig gebündelte monopolistische Marktmacht auch ein Problem für den Wettbewerb.
In der Logistik lässt sich eine erste Tendenz zu Plattformen beobachten. Vor allem für Verlader, die reibungslose Geschäftsprozesse aus dem E-Commerce gewohnt sind, sind neue, rein digitale Speditionen interessant. Es wird für die Branche unumgänglich sein, nicht nur die Plattformökonomie für sich zu erschließen und an diversen Online-Marktplätzen teilzunehmen, sondern sich auch für den Datenaustausch mit Verladern und Transporteuren zu öffnen, um den Kunden innovative, datenbasierte Dienstleistungen anbieten zu können. Hier besteht jedoch dieselbe Gefahr, dass Plattformen über eine kritische Größe hinauswachsen und diese Position zu ihrem Vorteil ausnutzen – diese extreme Akkumulation von Marktmacht ist ein neues Phänomen der Plattformwirtschaft und stellt die größte Gefahr dieses neuen Geschäftsmodells am Ende auch für den Kunden dar.
Abgesehen von der Nutzung von Plattformen sitzt die Logistik auf einem gigantischen Datenschatz, der nur darauf wartet, gehoben zu werden. In Zukunft werden Unternehmen, die verstehen, ihr Netzwerk zu nutzen und Rohdaten in Ein- und Aussichten für das eigene Geschäft umzuwandeln, einen entscheidenden Vorteil gegenüber Wettbewerbern haben.
m&w: Warum sind Speditionen und Logistikunternehmen besonders positioniert, um für alle Glieder der Lieferkette Innovationsimpulse zu geben und gleichzeitig von der Digitalisierung zu profitieren?
Tim Schneider: Der Spediteur ist Dreh- und Angelpunkt der Lieferkette und hat Schnittstellen zu allen Gliedern der Supply-Chain. Er kennt die verschiedenen Dienstleister und ist Architekt des Transports. Diese vernetzende Stellung verhalf dem Spediteur lange zu einer Informationshoheit gegenüber Kunden, die eine Grundlage für sein Geschäftsmodell war.
“Die Digitalisierung stellt die Branche nun vor eine Herausforderung, da sie einen hohen Grad an Transparenz in die Prozesse und Bepreisung der speditionellen Dienstleistung trägt”
Es ist dem Verlader heute möglich, in Sekundenschnelle dutzende Angebote verschiedener Transportdienstleistungen zu vergleichen. Der Spediteur muss seine Rolle also teilweise neu definieren – Kundenbindung findet heute mehr über digitale Zusatzleistungen statt, durch „convenience“ und die „user experience“ wie es im B2C-Bereich genannt wird, und weniger über den Preis. Ich denke, dass es an dieser Stelle für die Spedition interessant sein kann, sich nicht nur als Herrin über die physischen Transportprozesse zu positionieren, sondern auch eine lenkende Position im digitalen Raum einzunehmen.
Diese neue Rolle eines datengetriebenen, agilen Strategen der Lieferkette haben heute noch die wenigsten Spediteure angenommen. Als Leitbild kann es der Branche jedoch dabei helfen, sich den neuen Spielregeln der digitalen Transformation anzunähern und bereits bestehende Innovationspotenziale zu heben. Nimmt der Spediteur diese Rolle als treibender Innovator einmal an, multipliziert er den Impuls entlang der gesamten Lieferkette.
m&w: Um welche relevanten Technologien geht es, um die digitale Transformation für speditionelle Prozesse voranzutreiben?
Tim Schneider: In einem ersten Schritt steht immer die Betrachtung der eigenen Prozesse: Wo gibt es Ineffizienzen? Besteht Optimierungsbedarf? Danach findet sich schon meist die Möglichkeit, eine Technologie zu nutzen, um einen Teilbereich im Unternehmen zu unterstützen und zu verbessern. Die Technologie ist immer Mittel zum Zweck und sollte bei Innovationsprozessen nicht im Mittelpunkt stehen. Nichtsdestotrotz weisen einige Technologien in der Tat eine höhere Relevanz auf, als andere.
Die einfache Datenauswertung in Form von Business-Intelligence und -Analytics ist derzeit maßgeblich, um die Branche digital voranzubringen. Besteht ein branchenweites Verständnis für die Anwendung solcher statistischen Methoden, wird es kein weiter Weg mehr zu Automatisierung von Prozessen und der Nutzung künstlicher Intelligenz sein. Gleichzeitig dürfte im Hardwarebereich die Robotik ein maßgeblicher Faktor werden, der speditionelle Prozesse transformiert – ob bei der Kommissionierung oder den Verladeprozessen, die physischen Prozesse der Logistik könnten neugestaltet und die körperliche Belastung der Mitarbeiter minimiert werden. Um Unternehmen bei der Orientierung während Digitalisierungsprojekten zu unterstützen, hat der DSLV kürzlich seinen ‚Innovationsradar‘ veröffentlicht. Darin beschrieben werden die Anwendungsfälle von Technologien wie Blockchain und Virtual-Reality, um der Branche eine Einschätzung zu erlauben, ob eine Technologie für das jeweilige Unternehmen interessant werden könnte.
m&w: Welche Transportfälle in Logistikunternehmen können zukünftig digital gemanagt werden?
Tim Schneider: Dort, wo bereits etablierte Standards hinsichtlich Packstückgröße und Formfaktor bestehen, wird es am einfachsten sein, den Transportfall digital abzubilden und zu optimieren. Palettierte Ware im Stückgut und Containerladungen erscheinen an dieser Stelle naheliegend. Im aktuellen Angebot der Dienstleistungen einiger digitaler Speditionen spiegelt sich diese Annahme wider – Standardisierung ist für die Digitalisierung von Prozessen unumgänglich und Anwendungsfälle, die auf anerkannte Standards zurückgreifen können, lassen sich reibungslos automatisieren. Ausnahmefälle und Nischentransporte werden in ihrer Umsetzung noch auf lange Hinsicht auf einen hohen Grad an menschlicher Intervention vertrauen müssen. Auch die Bearbeitung unvorhersehbarer Umstände, „Exception Management“, wird durch digital gemanagte Systeme zunächst nur unbefriedigend möglich sein. Selbst bei steigendem Automatisierungsgrad wird der Mensch, ob als Fahrer oder in der Disposition, noch lange Aufgaben übernehmen müssen – digitale Technologien werden den Arbeitsalltag jedoch ungemein erleichtern.