Der Arbeitsmarkt ist leer gefegt. Unternehmen vieler Branchen klagen über fehlende Fachkräfte. Menschen mit Behinderung geraten bei der Suche meist weniger in den Blick. Dabei wird wertvolles Potenzial völlig außer Acht gelassen.
Thomas Meier hat seinen Wunschberuf gefunden. Seine Tätigkeit als Facharbeiter im Tiefbau macht ihm Freude und gibt ihm Erfüllung. Dabei waren die Voraussetzungen alles andere als gut. Schon während der Schulzeit bereiteten ihm seine Leistungen sorgen. Es fiel ihm schwer, zu lernen und sich zu konzentrieren. Doch er hatte Glück. Bei der in seiner Schule angebotenen Berufsorientierung kam er mit einem Berufsberater der Agentur für Arbeit Detmold ins Gespräch. Mit deren Hilfe fand er einen Ausbildungsplatz, absolvierte eine dreijährige Lehre, die auf seine Lernschwierigkeiten ausgerichtet war, mit den üblichen Praxisphasen und erwarb in der Theorie nur das für seine Tätigkeit notwendige Wissen.
Facharbeiter Meier gehört zu den sogenannten beruflichen Rehabilitanden. Das sind Menschen, deren Aussichten am Arbeitsmarkt teilzuhaben, aufgrund einer Lernbehinderung oder einer anderen Behinderung gemindert sind und die im privaten Alltag grundsätzlich ein völlig uneingeschränktes Leben führen. Ohne Unterstützung schaffen es die wenigsten, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Erschreckend ist, dass sich die Zahl der Frauen und Männer, die einer Beschäftigung nachgehen könnten, aber keine Chance bekommen, in den letzten zehn Jahren stark angestiegen ist. Mit einem Anteil von Rehabilitanden (mit Reha-Trägerschaft Bundesagentur für Arbeit) an allen Arbeitslosen von 5,7 Prozent im Jahr 2013 und 11,6 Prozent im Jahr 2022 hat sich die Zahl im Kreis Lippe nahezu verdoppelt.
Für Mathias Dreimann, Teamleiter berufliche Rehabilitation / Schwerbehinderung bei der Agentur für Arbeit Detmold, ist die berufliche Entwicklung wie die von Thomas Meier eine echte Erfolgsgeschichte und ein Beispiel dafür, wie die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben und damit auch an der Gesellschaft von Menschen mit Einschränkungen gelingen kann. Er freut sich, dass er auf dem Arbeitsmarkt Fuß gefasst und seinen Reha-Status beendet hat. Doch für den Reha-Berater bedeutet die gelungene Integration noch weitaus mehr, weil sie eine gute Investition ist, die sich mehrfach auszahlt:
„Sie sichert nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern ist auch ein kleiner, aber wertvoller Baustein, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Zusätzlich zahlt jeder sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in das Sozialsystem ein und leistet einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft.“
Seit dreieinhalb Jahren führt Mathias Dreimann ein vierzehnköpfiges Team, das in der Woche über einhundert Beratungen durchführt, Tendenz weiter steigend. Der Lipper ist seit gut neunzehn Jahren in verschiedenen Funktionen bei der Agentur für Arbeit Detmold tätig. In dieser Zeit war er auch Arbeitsvermittler für Menschen mit Behinderung. Die Entscheidung, seine berufliche Karriere hier zu beginnen, erfolgte direkt nach dem Abitur. Damals stieß er bei der Berufsberatung der Agentur für Arbeit auf ein Plakat, dessen Botschaft ihn beeindruckte:
„Wir bringen Menschen und Arbeit zusammen“.
„Die Agentur für Arbeit warb mit einer stärkeren Ausrichtung auf den Dienstleistungsgedanken. Das hat mich gereizt und motiviert, hier meine berufliche Zukunft zu beginnen“, so Dreimann. Seitdem ist der heute 38-Jährige, der selbst eine angeborene Sehbehinderung hat, in Sachen Förderung und Gleichstellung von Menschen mit Behinderung aktiv.
„Ich habe Hochachtung für die Menschen, die zu uns kommen und bereit sind, den Weg in eine neue berufliche Zukunft zu gehen. Wir müssen dahin kommen, dass Anderssein normal ist“, sagt Teamleiter Dreimann, der ein positiv denkender Mensch ist.
Und er weiß, wie wichtig die Arbeit seines Teams ist. Das spiegelt allein schon der Blick auf die steigende Zahl der beruflichen Rehabilitanden mit Reha-Trägerschaft Bundesagentur für Arbeit im Kreis Lippe wider. Gehörten 2013 gut 800 Frauen und Männer im Kreis Lippe zu den beruflichen Rehabilitanden, so lag die Zahl 2022 schon bei knapp 1200.
Unterstützung und Hilfe erhalten auch Menschen mit Schwerbehinderung, die bereits im Erwerbsleben oder arbeitslos sind. Statistisch gesehen leben in Deutschland gut 7,8 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung. Hinzu kommen die Menschen, die für das Arbeitsleben den Schwerbehinderten gleichgestellt sind.
„Unsere Aufgabe ist es, diese etwa zehn Millionen Menschen am Arbeitsmarkt partizipieren zu lassen“, so der Teamleiter.
Mathias Dreimann weiß, dass Menschen mit u. a. körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen oftmals auf Vorbehalte stoßen: „Unternehmen sind unsicher oder ihnen mangelt es schlicht an Wissen, das sie davon abhält, Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Dabei lässt eine Beeinträchtigung keinerlei Rückschluss auf die Arbeitsleistung eines Menschen zu, zumal man diese oftmals nicht bemerkt. Bei gut 55 Prozent der Betroffenen ist sie gar nicht sichtbar. Leider denken viele zu sehr in Schubladen und sind nicht bereit, über den Tellerrand hinaus zu blicken“, beschreibt Dreimann seine Beobachtungen, die auch die Statistik bestätigt. So sind in Lippe nur etwa 4,4 Prozent der Menschen mit Behinderung in der Wirtschaft beschäftigt (NRW-weit 4,7 Prozent), im öffentlichen Dienst 5,4 Prozent. Auch der Anteil von Schwerbehinderten an allen Arbeitslosen ist in Lippe in den letzten fünf Jahren kontinuierlich angestiegen – das Gleiche gilt für OWL. Waren es in der Region in 2017 noch etwa 3700 Arbeitslose mit einer Schwerbehinderung, lag die Zahl in 2022 etwa bei 4100, während die Arbeitslosenzahlen insgesamt zurückgegangen sind.
Doch was bedeutet Schwerbehinderung überhaupt und wer stellt diese fest?
Als schwerbehindert gelten Menschen, die einen körperlichen, sinnes, geistigen oder seelischen Behinderungsgrad von 50 Prozent oder mehr haben. Personen mit einem Behinderungsgrad von mindestens 30 Prozent und weniger als 50 Prozent können auf Antrag von der Agentur für Arbeit den Schwerbehinderten gleichgestellt werden, um so die Chance auf einen Arbeitsplatz zu erhöhen. Die Schwerbehinderung wird behördlich festgestellt – in Lippe zum Beispiel vom Kreis und in Bielefeld von der Stadt.
„Meist sind es organische Erkrankungen, Seh- und Hörbeeinträchtigungen oder chronische Erkrankungen, die der Grund für eine Schwerbehinderung sind. Der Verlust der Gliedmaßen ist eher selten“, so Mathias Dreimann. Dabei seien nur etwa drei Prozent aller Beeinträchtigungen angeboren, weiß der Arbeitsberater. Was im Umkehrschluss bedeute, dass 97 Prozent im Laufe des Lebens erworben würden:
„Das zeigt ganz deutlich, wie hoch das Risiko eines jeden Menschen ist, selbst irgendwann betroffen zu sein.“
Deshalb hören Mathias Dreimann und sein Team nicht auf, sich für ein generelles Umdenken in der Gesellschaft zu engagieren. „Wenn ein Arbeitgeber tatsächlich schon einmal negative Erfahrungen gemacht hat, dann darf er nicht den Fehler begehen und denken, dass das grundsätzlich so sein muss. In den Gesprächen versuchen wir zu sensibilisieren und wir bemerken dann doch eine gewisse Offenheit. Einige brauchen einen konkreten Anstoß, um aktiv zu werden“, sagt der Berater. Sein Ansatz ist es, Unternehmen, die Menschen mit Behinderung einstellen wollen, jede Form der Unterstützung und Beratung anzubieten und das unkompliziert aus einer Hand.
„Neben der Beratung vermitteln wir geeignete Bewerber für angebotene Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Außerdem koordinieren wir für den jeweiligen Arbeitgeber unsere Fördermöglichkeiten und stellen Kontakt zu den anderen Akteuren wie zum Beispiel zum Integrationsfachdienst, zu den Kammern oder dem Jobcenter her“, beschreibt Dreimann die umfangreichen Leistungen. Dazu gehört auch die Besprechung weiterer Maßnahmen, die vor Arbeitsbeginn nötig sind. Denn da seien möglicherweise Umbauten des Arbeitsplatzes notwendig, die Beförderung zum Arbeitsplatz zu klären oder eine Arbeitsassistenz zu realisieren.
Jedem Arbeitgeber zu verdeutlichen, dass jeder Mensch, ganz gleich welche Form der Behinderung er mitbringt, über besondere individuelle Fähigkeiten und Stärken verfügt, das ist Dreimanns Anliegen. Die Kunst sei es, diese richtig einzusetzen. Wenn das gelinge, dann könnte jede Person eine Bereicherung für das Unternehmen darstellen.
An finanzieller Unterstützung mangelt es nicht. Die Detmolder Agentur für Arbeit hat die Ausgaben für berufliche Rehabilitation in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Im letzten Jahr standen 16 Millionen Euro bereit, das ist ein Anteil von gut 62 Prozent an den operativen Ausgaben der Arbeitsagentur.
Das vielfältige Angebot zur Unterstützung der Ausbildungs- und Arbeitssuche für Menschen mit Behinderung umfasst auch finanzielle Hilfen für Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderung einstellen (u.a. Zuschuss zur Ausbildungsvergütung oder Arbeitsentgelt).
Aus seinen vielen Gesprächen mit den Arbeitssuchenden berichtet er immer gerne über Erfolgsgeschichten, die Mut machen und zum Umdenken führen sollen. „Wir haben einen ehemaligen Dachdecker begleitet, der nach einem Unfall und erfolgter medizinischer Reha und anschließender Umschulung wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen wollte.
Es war beeindruckend zu sehen, welche extreme Leistung er in seinem neuen Job zeigte und wie motiviert er seiner Arbeit nachging. Das ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie viel Potenzial in den Menschen steckt und dass Menschen mit Behinderung auch ein Teil der Lösung des Fachkräftemangels sein können”, so der Arbeitsberater.
Dreimann ist heute noch genauso motiviert wie zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn.
„Den Menschen Perspektiven aufzuzeigen und dabei unsere Ermessensspielräume und finanziellen Möglichkeiten entsprechend zu nutzen, das ist die Motivation, die mein Team und mich immer wieder antreibt. Das Bestmögliche im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben gemeinsam mit jedem einzelnen Menschen zu erreichen, ist die Messlatte für uns.“