Modernes Marketing ist ohne den Einsatz verschiedenster Technologien nicht mehr denkbar. Was das für die Marketingaktivitäten in Unternehmen bedeutet, erklärt Professor Dr. Ralf E. Strauß, Präsident beim Deutschen Marketing Verband.
Die digitale Transformation stellt das Marketing vor vielfältige und neue Herausforderungen. Wie verändert sich damit die Marketing-Funktion?
Dr. Ralf E. Strauß: Marketing-Organisationen stecken inmitten grundlegender Veränderungen: Die lange heiß ersehnte bi-direktionale, massenhafte und personalisierte Interaktion mit dem „Social Media-gestärkten“ Kunden erweist sich als wahrhafter und nachhaltiger Paradigmenwechsel. Facebook und Co. verwandeln mediale Monologe in sozial vernetzte Dialoge. Tradierte Rollenmodelle zwischen (aktiven) Erstellern von Web-Inhalten auf der einen Seite und (passiven) Konsumenten bereitgestellter Informationen auf der anderen Seite weichen immer weiter einer multimedialen und -lateralen Kommunikation und Transaktion im „Social Commerce“.
Ein dermaßen technologieorientiertes Marketing verlangt dann nach neuen Kompetenzen in den Unternehmen.
Dr. Ralf E. Strauß: Absolut, die Marketing-Neuausrichtung fordert den Aufbau neuartiger Kompetenzen. Die Erwartungen der Kunden an das Preis-Leistungs-Verhältnis und die Qualität der Produkte und Dienstleistungen, sowie ein problemloser (mobiler) Zugang zu dem, was sie wollen und wann sie es wollen, sind vor diesem Hintergrund dramatisch gestiegen. Gefordert sind Tugenden wie Ehrlichkeit, Transparenz, Authentizität und Relevanz für den Kunden. Aus der Sicht des Marketings – verstanden als marktorientierte Unternehmensführung – entsteht hieraus eine Vielzahl neuer Herausforderungen: die systematische und zielgerichtete Nutzung und Integration neuer IT-Technologien und dazugehörender Prozesse im Realtime Marketing, die Verzahnung und Optimierung verschiedenartigster Medien und Kommunikationskanäle, die Etablierung einer konsistenten Kundenerfahrung über alle Kunden-„Touchpoints“ im Sinne eines Total Customer Experience Managements oder auch die Neuausrichtung des Marketings inklusive des Aufbaus der erforderlichen (neuartigen) Kompetenzen. Die Vielzahl an Studien zeigt: Selten war die Funktion des Marketings so vielen und vielschichtigen Veränderungen unterworfen. Vor diesem Hintergrund ist systematisches Handlungs- und Orientierungswissen gefragt, im Sinne von: Welche Themen und Herausforderungen sollten in welcher Form angegangen werden? Es geht hier weder darum, den nächsten „kreativen Meisterstreich“ herbeizusehnen, noch permanent dem neuesten Buzzword hinterherzujagen. Vielmehr geht es um die systematische Suche nach Strategien und Erfolgsfaktoren, die Unternehmen helfen, Erfolge im Digital Business zu realisieren. Die laufenden Veränderungen bergen enorme Potenziale, gleichzeitig sind Umfang und Tempo für die meisten (etablierten) Organisationen beängstigend und nur schwer zu bewältigen.
Gibt es denn Unternehmensbereiche, die in der Neuausrichtung schon weiter sind?
Dr. Ralf E. Strauß: Ja, in der Logistik und im Supply Management gelangen schon seit Jahren neue Prozesse zur Anwendung. Marketing und Vertrieb liegen noch weit zurück. Die Befragung und Analyse von fast 300 Unternehmen in Bezug auf die Erfolgsfaktoren einer Digitalen Transformation sowie mehr als 40 durchgeführte Workshops zeigen, dass der Funktion des Marketings eine herausragende Bedeutung zukommt. So geben die befragten Unternehmen unisono an, dass sie im Bereich Logistik-/Supply-Chain-Management es bereits seit ca. 1985 gewohnt sind, Prozesse, Strukturen und Systeme immer wieder neu zu erfinden. Dies war der Zeitpunkt der Einführung der Just-in-Time-Beschaffung. Mit anderen Worten: Permanente Innovation entlang aller Logistik-Prozesse präsentiert sich hier bereits als langjährig geübte Tradition.
Und wie sieht es im Marketing aus?
Dr. Ralf E. Strauß: Untersuchungen zeigen, dass hier in vielen Unternehmen ein erheblicher Rückstau an Innovationen besteht. Der Spannungsbogen in Marketing und Vertrieb könnte kaum größer sein: Die in der Vergangenheit durchgeführten CRM-Implementierungen oder Digital-Projekte haben die euphorischen Wunschvorstellungen kaum erfüllen können. Gleichzeitig befinden sich diese Organisationen bereits mitten im nächsten Evolutionsschritt „Big Data“. Dieses Stichwort umfasst die Digitalisierung mit Konzepten zur Marketing-Automatisierung, Programmatic Advertising oder umfassender Kundenanalysen. Die gleichen handelnden Akteure, die heute die Digitalisierung verantworten, haben oftmals noch die Blessuren vorheriger Projekte zu verschmerzen. Dabei zeigt die Analyse auch, dass es hier nicht nur um die Einführung neuer IT-Tools geht. Vielmehr ist eine wahre digitale „Transformation“ von Nöten, welche die Ursachen früherer Probleme mit aufgreifen muss: langwierige Veränderungen eingefahrener Verhaltensweisen ebenso wie das traditionell eher schwierige Zusammenspiel von Marketing/Vertrieb versus IT.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Führung des Unternehmens?
Dr. Ralf E. Strauß: Die Strategieentwicklung wandelt sich von der Produktion möglichst vieler und komplexer Powerpoint-Charts zu einem aktiv gelebten Prozess, der mit Leidenschaft in der jeweiligen Organisation ausgerollt werden muss. Statt die Strategie nur als Instrument und „Pro-Forma“-Beleg für das Budget des jeweils nächsten Jahres zu nutzen, stellt diese den Nukleus sämtlicher Aktivitäten und Maßnahmen dar. Im Management wandelt sich der zumeist hierarchische und bisweilen autokratische Führungsstil zunehmend in ein hohes Maß an Dezentralisierung, Selbstorganisation und Teamwork. Einer der befragten Marketing-Vorstände wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Social Media unmittelbare Kundeninteraktionen erfordert. Dies impliziert für Konzerne mit strikten Organisationsanweisungen einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel, wenn die ansonsten notwendigen Abstimmungsschleifen mit der Rechtsabteilung oder dem Vertriebsleiter entfallen.
Entgegen aller seit den 60er Jahren geführten Diskussionen um „Organisational Learning“ ist die Umsetzung dieses Konzeptes in der Realität meist Makulatur geblieben: Fehler werden als persönlicher Makel im Lebenslauf angesehen, ein „Lernen aus Fehlern“ unterbleibt. Obwohl funktionale Silos klare Spezialisierungsvorteile aufweisen, erschweren diese gleichzeitig aufgrund vielschichtiger (formaler) Schnittstellen die Zusammenarbeit mit anderen Bereichen. Vielfältige Projekterfahrungen belegen, dass cross-funktionale Teams multiple Beziehungen, Netzwerke und Kreativität fördern. Macht manifestiert sich weniger in formalen Regelungen und Normen, als vielmehr in Wissen und Ideenreichtum.
Stichwort Zusammenarbeit: Wie wichtig ist eine fachbereichsübergreifende Kooperation für den Erfolg der Digitalisierung des Marketings?
Dr. Ralf E. Strauß: Viele Unternehmen sind im Rahmen der digitalen Transformation bereits dazu übergegangen, sowohl die Verantwortung, als auch die Budgets für Software-Anwendungen in den Marketing/Vertriebs-Fachbereich zu verlagern. So kommt der Zusammenarbeit zwischen Fachbereich und der IT eine umso größere Bedeutung zu. War die IT vormals der „interne Dienstleister“, der nur gemäß Vorgabe des Fachbereichs tätig wurde, steigt auch hier die Notwendigkeit zur unmittelbaren cross-funktionalen Zusammenarbeit mit gemeinsam getragener Verantwortung und Durchführung. Projekte zeigen, dass eine agile Zusammenarbeit (Scrum-Modus) auf der einen Seite zwar die Effizienz um 25 bis 35 Prozent zu steigern vermag, gleichzeitig aber das finale Endergebnis nicht von vornherein 100-prozentig mit allen inkludierten Anwendungsszenarien vollständig definiert werden kann.
Das bedeutet, dass neue und junge IT-Spezialisten vonnöten sind?
Dr. Ralf E. Strauß: Gespräche mit Marketingverantwortlichen zeigen, dass das Marketing in den „Drivers Seat“ der Digitalen Transformation muss. Gleichzeitig jedoch erscheint das traditionelle Pyramiden-Modell in der Projektunterstützung und externer Beratung (ein Senior, mehrere Juniors) obsolet. Damit werden anders geartete Unterstützungsmechanismen notwendig. Drastisch formuliert hat es in diesem Zusammenhang der Marketingvorstand eines Konzerns, der darauf hingewiesen hat, dass aus seiner Sicht „Jugend forscht“ hier fehl am Platze sei – vielmehr (mehrjährige) praktische Umsetzungs- und Integrationserfahrung erforderlich ist. Dieser seniore Projektleiter muss nach Aussage der meisten Marketingverantwortlichen mithelfen, die gerne strapazierten Buzzwords für das jeweilige Unternehmen zu übersetzen und in „verdaubare Pakete“ zu verwandeln. Selbst wenn – wie in der Studie „Marketingorganisation der Zukunft“ des Deutschen Marketing Verbands – neue, junge Helden für die Entwicklung und Umsetzung der digitalen Transformation gesucht werden, ist diese durch langjähriges Erfahrungswissen zu begleiten und abzusichern.
Ähnliches gilt für die Unterstützung von Marketing/Vertrieb durch den Personalbereich: Synchron zur Weiterentwicklung von Marketing/Vertrieb muss sich dieser zu einem pro-aktiven HR-Coach weiterentwickeln, mit einem systematischen Kompetenzmanagement als Ausgangspunkt. Change bedeutet in diesem Zusammenhang, den internen als auch den externen Veränderungsprozess systematisch mit Instrumenten der Kommunikation aktiv zu begleiten – und nicht nur als politisch opportune „Projekt-Phrase“ in ein Sammelsurium von Präsentationen einzubetten. Hier sehe ich die Notwendigkeit eines systematischen Change Managements: Ein Kollege hat das einmal treffend formuliert: Es sei notwendig, nicht nur den Intellekt der Betroffenen in Marketing und Vertrieb zu erreichen, sondern auch „Herz und Bauchgefühl“. Dann, und nur dann, werde diese die digitale Transformation aktiv fördern und auch zum Erfolg führen.