„Unsere Technologie hätte ohne wissenschaftliche Expertise keine Chance auf Vermarktung gehabt“

Serie: Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft

Karosserien und Batteriegehäuse elektrisch angetriebener Fahrzeuge sind häufig stoffschlüssig geklebt. Um diese unter Nachhaltigkeits- aspekten reparieren, warten und instandsetzen zu können, müssen die Klebverbindungen bauteilschonend gelöst werden. Das Bielefelder Unternehmen mycon sowie die Universität Paderborn (UPB) und die Hochschule Hamm-Lippstadt (HSHL) haben gemeinsam ein einzigartiges Entfügeverfahren entwickelt, das ohne Wärme auskommt. HSHL-Professor Dr.-Ing. Tim M. Wibbeke und Jens W. Kipp, Geschäftsführer mycon, über die erfolgreiche Kooperation.

m&w: Ihre Hochschule und die Universität Paderborn haben gemeinsam ein Verfahren entwickelt, dass das bauteilschonende Lösen von Klebverbindungen ermöglicht. Welche Vorteile bietet diese einzigartige Technologie?

HSHL-Professor Dr.-Ing. Tim M. Wibbeke

Prof. Tim M. Wibbeke: In Kraftfahrzeugen sind heute sehr viele Bauteile geklebt. Allein an einer Mittelklasse-Rohkarosserie werden über 100 Meter strukturelle Klebnaht eingesetzt. Das ist bei der Instandsetzung von geklebten Strukturen im Reparaturbetrieb jedoch problematisch. Insbesondere die eingesetzten hoch- und crashfesten Epoxidharzklebstoffe lassen sich mechanisch nur schwierig entfügen, wenn z. B. ein Teil aus dem Schweller einer Karosserie entfernt werden muss.
Herkömmliches Entfügen von Klebverbindungen findet momentan durch Erwärmen knapp oberhalb der Glasübergangstemperatur statt, was zu einer gewissen Reduktion der Festigkeit der Klebverbindung führt. Alternativ wird auch das weitergehende Erwärmen bis zur thermischen Schädigung des Klebstoffes angewendet, welches einen hohen Zeit- und Energie-Aufwand bedeutet. Hierbei kann es zudem zu einer thermischen Schädigung angrenzender Bauteile bzw. zur Schädigung von tieferliegenden Klebschichten kommen. Das ist nicht unproblematisch, da aufgrund von Gewährleistung die Bauteileigenschaften nach der Reparatur die gleichen sein müssen, wie am Originalbauteil vor der Reparatur.
Andere Konzepte verfolgen den Ansatz der Modifizierung der Klebstoffe mit entsprechenden Partikeln, die dann „on demand“ und punktgenau in der Klebschicht erregt werden. Hierbei kommt es dann direkt in der Klebschicht zu einer thermischen Schädigung. Diese Strategie setzt allerdings eine Modifizierung der Klebsysteme und die Akzeptanz höherer Preise voraus. Nachteilig ist zudem, dass es zu einem Sicherheitsproblem bei Fehlerregungsimpulsen aus der Umwelt während der Nutzung des Automobils kommen kann. Dieses wäre für die Sicherheit von geklebten Strukturen fatal.

Außerdem haben wir festgestellt, dass sich die Bauteile beim Entfügen mit Tieftemperaturkühlung wesentlich geringer verformen als bei einem Entfügevorgang mit thermischer Unterstützung. Das bedeutet, dass die mechanische Belastung der verbleibenden Bereiche wesentlich bauteilschonender verläuft und weniger mechanische Energie beim Entfügen eingesetzt werden muss. Eine weitere Erkenntnis haben unsere Forschungen bestätigt, dass es mit unserem Verfahren beim Tiefkühlen nicht „zu kalt“ für Klebstoffe werden kann. Eine bleibende Schädigung nach dem wieder Erreichen der Raumtemperatur findet nicht statt.

m&w: Wie funktioniert Ihr entwickeltes Verfahren?

Prof.  Wibbeke: Das von uns entwickelte Verfahren arbeitet mit einem CO2-Kühlstrahlsystem zum Verspröden der Klebstoffe. Durch die starke Abkühlung verfallen die im Crashfall energieabsorbierenden Teile im Klebstoff in einen glasartigen Zustand, was die Trennung effizient und schonend gestaltet. Um diese Technologie industriell zu nutzen, haben wir zusammen mit Prof. Gerson Meschut und Nick Chudalla vom Laboratorium für Werkstoff- und Fügtechnik (LWF) der Universität Paderborn eine spezielle Vorrichtung zur Tiefkühlung der zu entfügenden Bauteilbereiche entwickelt. Das Kohlendioxid befindet sich in einer Druckflasche und wird gezielt an die zu kühlende Klebverbindung geleitet. Wir haben zusätzlich ein flexibles Kopfstück entworfen, mit dem auch Freiformoberflächen wie am Radkasten einer Karosserie gekühlt werden können. Nach der Tiefkühlung der Entfügestelle kann die Klebschicht dann schnell und kraftsparend mit einem handelsüblichen Karosseriemeißel geöffnet werden.

m&w: Herr Kipp, wo sehen Sie die Vorteile dieser innovativen Technologie?

Jens W. Kipp, Geschäftsführer mycon

Jens W. Kipp: Unsere Technologie reduziert nicht nur den Zeitaufwand für die Entfügungsarbeiten, sie ist auch wesentlich schonender, weil keine angrenzenden Lackschichten oder Kunststoffteile beschädigt werden. Unser Verfahren ist auch anwendbar für die Entfügung von Batteriekästen bei E-Fahrzeugen, speziell bei Lithium-Batterie-Systemen. Hier mit Zufuhr von Wärme zu arbeiten wäre undenkbar. Problematisch ist die Erwärmung auch in sensiblen Branchen wie Automotive, Flugzeugbau und Bahnindustrie, wo anspruchsvolle Klebungen unerlässlich sind und der Sicherheitsaspekt gewährleistet sein muss.
Die bereits erwähnten Untersuchungen der beiden Hochschulen haben klar gezeigt, dass bei einer Entfügung durch Erwärmung die umliegenden Klebschichten irreversibel beschädigt werden können und den Belastungsanforderungen nicht mehr standhalten. Bei der Verwendung von Kälte sind die umliegenden Klebeschichten nach dem Rückgang der Tieftemperaturen wieder vollständig belastungsfähig.

m&w: Für die erfolgreiche Entfügung muss eine bestimmte Minustemperatur erreicht werden, was bisher in der Praxis nicht möglich war. Wie haben Sie das Problem der Kältezufuhr gelöst?

Jens W. Kipp: Es gab bereits zuvor Versuche und auch Patentanmeldungen für die Kühlung mit Industriegasen, z. B. mit Kohlendioxid. Bei der Expansion von flüssigem Kohlendioxid entsteht ein gasförmiger Kaltgasstrahl mit einem Anteil von etwa 40 Prozent Festpartikeln (Trockenschnee, im gepressten Zustand Trockeneis). Diese Partikel haben eine Temperatur von -78,5 °C. Das führt bedingt durch mehrere Faktoren (Kälteabfuhr / Leidenfrosteffekt) in der Praxis jedoch nur zu einer Abkühlung von Oberflächen auf etwa -32 °C. Für eine Entfügung von verklebten Bauteilen wird jedoch in der Klebschicht eine Temperatur von -60 bis -70 °C benötigt. Der Einsatz von Stickstoff kann Temperaturen von -196 °C erzeugen, ist jedoch durch hohe Sicherheitsanforderungen in diesem Bereich nicht einsetzbar.
Unser national und international zum Patent angemeldeter Lösungsansatz beruht auf einer sehr einfachen Erkenntnis: Flüssigkeit überträgt Temperaturen immer besser als ein gasförmiger Stoff. Deshalb spritzen wir in einem bestimmten Bereich eine sehr kleine Menge einer speziellen kältebeständigen Flüssigkeit als Aerosol in den Strom aus Gas-/ Festpartikelgemisch ein. Menge und Partikelgröße sind dabei genau auf eine perfekte Kälteübertragung abgestimmt. Uns ist es gelungen, die gesamte Technik in einem Gerät mit einem Gesamtgewicht von etwa 25 Kilogramm unterzubringen. Weiterer Vorteil, das Gerät lässt sich auch an schwer zugänglichen Stellen einsetzen.

m&w: Wie sah die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern in der Praxis aus?

Jens W. Kipp: Wir arbeiten seit vielen Jahren mit der Uni Paderborn zusammen, gemeinsam wurden bereits mehrere Projekte zu einem erfolgreichen Abschluss geführt.
Die Forschungsergebnisse des aktuellen Projekts hatten zuvor gezeigt, dass eine Entfügung per Kälteeintrag erhebliche Vorteile mit sich bringt, dennoch einige Schwierigkeiten birgt. Die beiden Forschungseinrichtungen benötigten für ihre Arbeit ein im Werkstattbereich einsetzbares Kühlverfahren und suchten den Kontakt zu uns. Daraufhin haben wir das bereits zum Patent angemeldete neue Verfahren „SplitMaster“ entwickelt und einen Prototypen des Geräts für weitere Versuchsserien zur Verfügung gestellt. Auch die beiden Hochschulen hatten für ein spezielles Vorrichtungsteil, das für die Entfügung notwendig ist, ein Patent angemeldet und uns zum Kauf angeboten.
Die Uni Paderborn und die Hochschule Hamm-Lippstadt planen ein zusätzliches Projekt, um den Einsatzbereich z. B. in der Batterietechnik zu erweitern. Wir sehen zudem auch Möglichkeiten für die Nutzung des Verfahrens zur Kühlung und sind überzeugt, dass sich so die Effizienz von Kühlungssystemen verdoppeln lässt. Hier suchen wir noch Partner aus dem Bereich Kühltechnik.  

m&w: Welchen Stellenwert hat dieses Verfahren für die Automobilbranche vor dem Hintergrund einer zunehmend wichtiger werdenden Kreislaufwirtschaft? 

Prof. Tim M. Wibbeke: Für eine nachhaltige Mobilität ist ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen entscheidend. Neben einer intelligenten Kreislaufwirtschaft, die auf ein effektives Recycling von Werkstoffen und Komponenten setzt, müssen auch nachhaltige Wertschöpfungsketten geschaffen werden. Was eignet sich da besser als die Aufbereitung und Reparatur bereits bestehender Bauteile?
Beispiel Instandhaltung: Weil unser Verfahren eine punktgenaue Bearbeitung möglich macht, werden nur die zu reparierenden Teile ortsgenau entnommen, anschließend wiederverwendet und beispielsweise neu geklebt. Das genaue energetische Einsparpotenzial des neuen Verfahrens im Vergleich zum Stand der Technik soll in einem Nachfolgeprojekt ermittelt werden.
Positiv zu Buche schlägt auch, dass Fehler bei der Reparatur und damit Materialverlust vermieden werden können. Aufgrund immer stärker steigende Material- und Teilpreise, manche Werkstoffe sind um den Faktor drei im Vergleich zum letzten Jahr gestiegen, ist dieses ein starkes Argument für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von Karosseriebetrieben.

m&w: Wie hat sich der Transfer Ihres patentierten Verfahrens in die Industrie vollzogen und wo lagen die besonderen Herausforderungen?

Prof. Tim M. Wibbeke: Es gab bereits unzählige Anfragen aus unterschiedlichen Bereichen der Industrie. Ein großer Automobilhersteller, mit dem wir erste Versuche an Realfahrzeugen durchgeführt haben, zeigte sich sehr interessiert und war von der smarten Entfügestrategie begeistert. Da sich der zeitliche Aufwand nahezu halbieren lässt, können auch die Reparaturkosten minimiert werden.
Eine der größeren Herausforderungen ist die Organisation von Tests an Realfahrzeugen. Das ist mit einem höheren Zeit- und Kostenaufwand verbunden als Proben im Labormaßstab, die wir natürlich während der Forschungsphase sehr umfänglich untersucht haben.

m&w: Wie beurteilen Sie im Rückblick die gemeinsame Zusammenarbeit und Unterstützung? Sehen Sie einen Mehrwert in einer interdisziplinären Zusammenarbeit?

Prof. Tim M. Wibbeke: Wir haben eine sehr gute Unterstützung erfahren. Die Firma mycon hat uns zu Beginn der Forschungsaktivitäten eine Pilotanlage zur Verfügung gestellt und dabei sukzessive die Anlagentechnik in Abhängigkeit der wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse weiterentwickelt. Darüber hinaus haben wir gemeinsam die Schnittstelle von Kühlaggregat zu Kühlkopf definiert. Mittlerweile ist es möglich, für unterschiedlichste Anwendungsfläche Standard-Kühlköpfe mithilfe des 3D-Drucks schnell und einfach herzustellen. Werden spezielle Anforderungen benötigt, ist eine unkomplizierte Anpassung möglich. 

Jens W. Kipp: Ohne die Zusammenarbeit wäre das neue Verfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht entwickelt worden. Ich bin mir sicher, dass unsere Technologie ohne wissenschaftliche Expertise keine Chance auf Vermarktung gehabt hätte, weil bei der Anwendung sicherheitsrelevante Aspekte eine wichtige Rolle spielen. Kein Hersteller aus den Bereichen Automotive, Bahnindustrie und Flugzeugbau würde den Einsatz des Verfahrens auch nur in Erwägung ziehen, wenn die Forschung unserer beiden Partner nicht die entsprechenden positiven Ergebnisse bestätigt hätte. Speziell für die Entwicklung von neuen Verfahren ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit aus unserer Sicht ein Muss.

m&w: Ihre Erfindung kommt aktuell für die Entfügung von Bauteilen in Fahrzeugen zum Einsatz. Ist eine Weiterentwicklung für andere Branchen geplant?

Jens W. Kipp: Das Verfahren ist für alle Bauteile interessant, die geklebt werden. Nach einer lösbaren Klebverbindung wurde weltweit seit Langem gesucht. Andere Entwicklungen wie z. B. die Modifizierung von Klebstoffen zur Erreichung einer Trennung bei etwa +90 Grad konnten sich aus sicherheitstechnischen Gründen bisher nicht durchsetzen. Eine Zusammenarbeit für eine Weiterentwicklung des Verfahrens für spezielle Bereiche ist zwischen uns, dem LWF der Universität Paderborn und der Hochschule Hamm-Lippstadt fest eingeplant.

 m&w: Was empfehlen Sie Unternehmern im Hinblick auf eine mögliche Kooperation mit einer Hochschule?

Jens W. Kipp: Vor der Kontaktaufnahme sollte das geplante Projekt auf Neuheit und Marktchancen im Wettbewerb mit bereits bestehenden Produkten geprüft werden. Eine Klärung der in dem geplanten Entwicklungsbereich vorhandenen Patentsituation ist in jedem Fall empfehlenswert. Vorteilhaft für eine Kooperation sind Erfahrungen der Universität oder Hochschule in dem jeweils geplanten Entwicklungsbereich. Hier ist auch zu klären, ob ein Antrag auf Förderung der Zusammenarbeit im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten sinnvoll ist.

m&w: Welche Bedeutung hat die Kooperation mit der Wirtschaft für Ihre Hochschule generell?

Prof. Tim M. Wibbeke: Kooperationen mit der Wirtschaft sind für die Universitäten und Hochschulen der angewandten Wissenschaften essenziell. Zum einen bedeuten Projekte mit örtlichen, aber auch überregionalen Unternehmen wichtige Drittmitteleinnahmen, zum anderen geben sie auch die Möglichkeit, den wissenschaftlichen Nachwuchs gezielt in diese Projekte zu integrieren und in Form von Projektarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten oder auch Promotionen zu fördern.
Da kleine und mittlere Unternehmen mit der Schaffung eigener Forschungskapazitäten oftmals zeitlich und monetär überfordert sind, benötigen sie qualifizierte und verlässliche Partner. Die HSHL und das LWF der Universität Paderborn sind mit ihrem anwendungsorientierten wissenschaftlichen Potenzial in der Lage, für anwendungsnahe Aufgaben bei Forschung und Entwicklung Lösungen zu erarbeiten, die unmittelbar von den KMU in die Anwendung eingebracht werden können.
Der Mehrwert des gemeinsamen Projekts mit der Firma mycon liegt in der Kombination aus der notwendigen wissenschaftlichen Untersuchung der Effekte beim Tieftemperaturentfügen durch das LWF der Uni Paderborn und unserer Hochschule sowie der Umsetzung in eine praxistaugliche Anlagentechnik durch das Unternehmen.

Das Interview ist Teil unserer neuen Serie, in der wir in Kooperation mit der PROvendis GmbH über die erfolgreiche Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft berichten.

 

 

KONTEXT
28 nordrhein-westfälische Hochschulen bilden gemeinsam mit der PROvendis GmbH den Verbund NRW Hochschul-IP. Der Verbund für Intellectual Property (IP) fördert den professionellen Wissens- und Technologietransfer. Dabei steht insbesondere auch die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft im Fokus – mit dem Teilprojekt innovation2business.nrw sucht und vermittelt PROvendis Technologien, Know-how oder Software aus den NRW-Hochschulen für die ganz individuellen Bedarfe von Unternehmen und Startups. Der Verbund NRW Hochschul-IP wird durch das Land Nordrhein-Westfalen gefördert, Zuwendungsgeber ist das Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie.

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