Mit der Einführung der Home Office-Pflicht vor zwei Jahren hat sich der Arbeitsalltag in den Unternehmen schlagartig verändert. Welche Kompetenzen Führungskräfte mitbringen müssen, um die virtuelle Zusammenarbeit von Teams effektiv zu gestalten, hat Prof. Dr. rer. pol. Natalie Bartholomäus von der Fachhochschule Bielefeld erforscht.
Frau Bartholomäus, warum müssen zwischenmenschliche Beziehungen und Bindungen – auch im digitalen Raum – gepflegt werden?
Dr. Nathalie Bartholomäus:
Wir Menschen sind per se soziale Wesen. In Organisationen zeigt sich die Bedeutung des informalen Netzwerks besonders eindrücklich: neue Ideen entstehen in der Kaffeepause, die erfolgreiche Einarbeitung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter braucht ein Erleben der Organisationskultur. Der sozio-emotionale Bereich ist ein zentraler Faktor für die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, der die Bindung eben jener an die Organisation begünstigen kann. Wie wichtig das ist, zeigen uns die bedenklichen Bindungsraten. Laut Gallup Engagement Index sind seit 19 Jahren nur 11 bis 17 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland emotional an ihren Arbeitgeber gebunden – ganze 15 Prozent hingegen haben bereits innerlich gekündigt, d. h. die Arbeitsleistung auf ein Minimum reduziert. Analog dazu ist auch die Wechselbereitschaft hoch: 37 Prozent denken nach der Forsa Studie 2022 über einen Jobwechsel nach. Zwischenmenschliche Beziehungen sind hier der Dreh- und Angelpunkt, auch und gerade im digitalen Raum, wo die Gestaltung des sozio-emotionalen Bereichs herausfordernder ist als im onsite-setting.
Wo liegen die Vorteile virtueller Führung?
Dr. Nathalie Bartholomäus: Grundsätzlich liegt ein zentraler Vorteil virtueller Zusammenarbeit in der Möglichkeit, Berufliches und Privates zu vereinbaren und den Arbeitsalltag entsprechend dem persönlichen Biorhythmus zu gestalten. Betrachten wir die Chancen der virtuellen Führung, können wir aus Arbeitgebersicht konstatieren, dass Expertise unabhängig von Raum und Zeit in die Arbeitsabläufe eingebunden werden kann. Mit Hilfe des virtuellen „Zuschaltens“ können Expertinnen und Experten aus aller Welt eingebunden werden, was ferner zu Einsparungen von Büro- und Reisekosten führen kann. Auch die Zusammenarbeit international agierender Teams über Standorte und Zeitzonen hinweg wird durch virtuelle Zusammenarbeit um ein Vielfaches vereinfacht. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass der gemeinsame Zugriff auf tagesaktuelle bzw. unternehmensinterne Informationen durch die Nutzung zentraler Datenbanken ermöglicht respektive vereinfacht wurde. Schauen wir aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf virtuelle Führung, ist es zunächst ein Vertrauenssignal seitens des Arbeitgebers, mir Spielräume für die Arbeitsausgestaltung einzugestehen. Darüber hinaus fördert virtuelle Arbeit aber auch die Chancengleichheit und Integration von Menschen, die aus familiären oder gesundheitlichen Gründen nicht mobil sind.
Was sind mögliche Nachteile?
Dr. Nathalie Bartholomäus: Meines Erachtens sollten wir nicht von Nachteilen sprechen, sondern von Herausforderungen, die in der virtuellen Zusammenarbeit zu bedenken sind. Ganz vorne steht dabei eine gute Vorbereitung. Problematiken entstehen vor allem, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht ausreichend auf die virtuelle Zusammenarbeit vorbereitet und dafür geschult sind. Dadurch, dass wichtige soziale Funktionen zu kurz kommen, erhöht sich aus Arbeitgebersicht die Gefahr, dass Konflikte nicht rechtzeitig erkannt werden und die Motivierung im Team erschwert ist. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Führungskräfteentwicklung. Viele der bisher genutzten Kompetenzen reichen nicht mehr im virtuellen Raum. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden den Führungskräften nicht mehr wegen des Charismas und der überzeugenden Persönlichkeiten folgen. Die Unzufriedenheit mit der Organisation kann dann die Wechselbereitschaft erhöhen, zumal ein Wechsel nicht mehr mit einem Ortswechsel verbunden ist.
Welche Kompetenzen sollten Führungskräfte mitbringen, um die virtuelle Zusammenarbeit von Teams zu gestalten, und wie lässt sich Führen auf Distanz trainieren?
Dr. Nathalie Bartholomäus: Nach eigener Datenerhebung im Kontext von Führungskräften der Telekommunikationsindustrie in der DACH-Region, konnten wir hierzu vier Soll-Kompetenzen identifizieren.
Es geht zum einen um Pragmatismus, was nicht gleichzusetzen ist mit pragmatischem Handeln. Vielmehr geht es im virtuellen Setting darum, eine Akzeptanz dafür zu entwickeln, dass es keine eindeutigen, klaren und universalen Abbilder der Welt gibt. Es gilt also, situative Lösungen zu suchen, die für eine bestimmte Zeit gelten.
Die nächste Kernkompetenz ist das Team-Commitment. Die Identifikation und das Zugehörigkeitsgefühl ist Folge des entsprechenden Führungsverhaltens. Es liegt folglich in der Hand der Führungskraft, dass Wir-Gefühl von Teams zu stärken, um den Sinn für das gemeinsame Tun zu schärfen und eine Antwort auf die Frage „was wollen wir erreichen?“ zu finden.
Die dritte Kompetenz bezieht sich auf das veränderungsorientierte Führen. Deutschland hat einen hohen Risikovermeidungsindex, was bedeutet, dass Planung und Kontrolle unser kulturelles Leitbild prägen. Wir sehen heute jedoch mehr als je zuvor, dass Veränderungen dazugehören – privat, gesellschaftlich, beruflich. Das erfordert ein gezieltes Management von Ungewissheiten – im großen und kleinen Kontext.
Das letzte Kompetenzfeld ist Expertise. Nicht die Führungskraft, sondern ausschließlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter treffen die Entscheidung darüber, ob ein Kommunikationsbeitrag der Führungskraft Expertise zeigt. Hier findet im virtuellen Kontext eine Neubewertung der Führungskräfte statt.
Welche Empfehlungen können Sie Führungskräften für ein erfolgreiches Remote-Leadership bzw. einen Team-Erfolg geben?
Dr. Nathalie Bartholomäus: Die Möglichkeit, von überall aus der Welt zu arbeiten, stellt Unternehmen vor noch weitergehende Herausforderungen technischer, infrastruktureller, arbeitsrechtlicher, sozialversicherungs- und steuerrechtlicher sowie unternehmenskultureller und mitarbeiterspezifischer Natur. Wie sich die virtuelle Arbeitswelt nach Abwägung der Vor- und Nachteile entwickelt, das wird sich in der Realität demnächst zeigen, wenn nach § 28 b Absatz 4 Infektionsschutzgesetz die Home Office-Pflicht wegfällt. Dass sich Unternehmen und Organisationen vielfach mit Ermöglichungskulturen aufstellen, sieht man an steigenden Betriebs- und Dienstvereinbarungen zum mobilen Arbeiten. Wenn dann noch an die Kompetenzentwicklung gedacht wird, kann das Beste aus beiden Welten verbunden werden.